Konnte man unter diesen Bedingungen arbeiten?

Manche Beamten zogen absichtlich die Arbeit in die Länge, um mich als einen unfähigen Vorsteher anzuprangern.

Ich sollte oft Überstunden machen, um die verlorene Zeit wiedereinzuholen.

Ich gab meine Freizeit her, um mir Sorgen zu ersparen.

Ich hatte keine Lust, eine « verlorene Kugel » in den Kopf zu kriegen .

 

*****

***

Von der Bushaltestelle bis zu meinem Büro musste ich zehn Minuten laufen. Eines Nachmittags, als ich wie gewöhnlich zum Büro ging, spürte ich etwas Stechendes auf meinem Rücken. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich den Jungen nicht bemerkte hatte, der mich heimtückisch verfolgte. Es war ein « Sans échec ». Einer von diesen Lausejungen, die durch manche Politiker und Offiziere gedeckt wurden, um in Bujumbura Unruhe zu stiften.

- « Entweder das Geld, oder Sie sind tot! » schrie der Lausbub, als ob er sich Mut geben wollte.

Kalter Schweiß floß über meinen Rücken. Ruhig drehte ich jedoch den Kopf. Mein Gott war der Bub jung! Er mußte elf oder zwölf sein und war ganz mager. Er zeigte mir ein Bajonett und schien entschlossen zu sein, sich mir entgegenzustellen.

« Sicher, daß er irgendwo ein paar Mittäter hat » dachte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein so junger Bub mich zu attackieren wagte. Ich sah mich um. Niemand. Manche Leute gingen hin und her, ohne sich mit uns zu beschäftigen. Drei Polizisten streiften nicht weit von uns herum und schienen sich nicht für uns zu interessieren.

« Sicher haben sie uns noch nicht gesehen» dachte ich.

Ich beschloß, meinen Angreifer zu ignorieren, und ging meinen Weg weiter in Richtung der Polizisten.

- « Ein Schritt mehr und ich werfe Ihnen eine Granate zu! » schrie der Bub.

- « Wirf doch, wenn du Lust hast », antwortete ich laut genug um mich den Polizisten verständlich zu machen.

Es waren nur fünf Meter zwischen mir und den Polizisten. Ich drehte mich noch einmal um und merkte, daß der Bub keine Granate in der Hand hatte. Er schwang das Bajonett und schrie:

- « Nächstes Mal werde ich Ihnen das Bajonett quer durch die Rippen stechen, Sie schmutziger Hutu. »

Er musste sich eben damit abfinden.

Ich antwortete nicht und ging meinen Weg weiter. Bei den Polizisten angekommen, grüsste ich sie freundlich. Keine Antwort. « Sicher haben sie mich nicht verstanden» dachte ich. So dumm war ich.

- « Guten Tag meine Herren, » sagte ich noch einmal mit einer demütigen, bittenden Stimme.

Als Antwort warf ein Polizist einen vernichtenden Blick auf mich. Er gab mir ein Zeichen, meinen Weg weiterzugehen. Schließlich gratulierte ich mir, daß ich den Buben nicht bestraft hatte. Es wäre ein Quatsch gewesen, den ich teuer bezahlt hätte. Auf jeden Fall wäre ich schuldig gewesen.

Fünf Minuten später war ich im Büro. Manche BeamtInnen waren noch draussen und diskutierten gerade über die soziale Lage im Land. Es waren Cyrille, der extremste Tutsi von allen, Pierre, Audace, Odette und Venuste. Nachdem sie mich gesehen hatten, hörten sie zu sprechen auf. Sie schienen ein bißchen verlegen zu sein. Sicher hatten sie mich nicht erwartet. Normalerweise war ich immer der erste im Büro. Ich war überpünktlich.

Ich war immer noch durch den Angriff verstört . Cyrille bemerkte es.

- « Was hast Du auf der Leber, Chef? » fragte er. « Bist Du krank? »

- « Nein. »

Ich erzählte ihm kurz über meinen Erlebnis. Ich erzählte auch, was mit den Polizisten geschehen war. Pierre lächelte und sagte einfach:

- « Ich bin enttäuscht, daß Du nur vor dem Computer klug bist. Diese Polizisten konnten dir auf keinen Fall zu Hilfe kommen. Sie... »

Er konnte seinen Satz nicht fertigmachen ... Cyrille war ihm leise aber fest auf den linken Fuß getreten, als ob er ihm sagen möchte : « Willst Du endlich ruhig sein! Du treuloser Mensch. »

Ich tat so, als ob ich nichts gesehen hätte und sagte:

- « Gehen wir mal ins Büro, meine Damen und Herren. Wir müssen baldigst das Wirtschaftsgesamtkonto publizieren ».

So bald ich in meinem Büro war, rief ich den Generaldirektor an. Ich erzählte ihm, wie ich angegriffen worden war. Er sagte mir, daß es immer gefährlich sei nachmittags zu Fuß in die Stadt zu gehen. Er hatte das natürlich nie gemacht, weil er ein Dienstauto hatte. Man hat ihm berichtet, daß andere Hutu Beamte wie ich, angegriffen worden waren. Ich erklärte, es werde ohne Transportmittel sehr schwierig für uns, nachmittags zu arbeiten. Er war mit mir einverstanden und versprach für alle BeamtenInnen eine Lösung für das Problem zu finden.

Am Morgen danach, nachdem wir die Fahne aufgezogen hatten, lud ich Pierre in mein Büro ein, um über den Fortschritt der statistischen Umfrage zu sprechen.

- « Es tut mir leid, daß ich dir gestern nicht alles ganz genau habe erklären können, » sagte er. « Ich wollte dich warnen... »

- « Mach’ dir darum keine Sorgen. Ich weiß alles. Sonst hätte ich doch den Lausbub bestraft. Ich machte es nicht, weil die Polizisten diese Gelegenheit benützt hätten, um mich umzubringen. Sie hätten mir einfach eine « verlorene Kugel » durch den Kopf jagen können».

- « Hör mal, Tabu. Du bist Hutu und ich bin Tutsi. Aber ich kann es nicht aushalten, daß die Hutu so viel leiden müssen wegen ihrer Ethnie, die sie bei ihrer Geburt nicht gewählt haben. Meine Tutsi Kollegen lieben mich nicht. Sie halten mich für einen treulosen Menschen».

- « Gestern habe ich bemerkt, wie Cyrile dir ein Zeichen gab, du solltest bleiben ».

- « Wirklich? Du bist ein guter Beobachter ».

- « Ich habe auch schon bemerkt, daß manche Beamten absichtlich die Arbeit in die Länge ziehen, um mich als einen unfähigen Vorsteher anzuprangern. Ich versuchte schon, mit einem von ihnen zu sprechen. Der ging sofort zum Generaldirektor und sagte, ich würde ihn wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit belästigen. Ein anderer finanzierte einen « Sans Echec», der mich bei lebendigem Leibe zu verbrennen drohte, wenn ich seinen Bruder nicht in Ruhe liesse. Darum mache ich oft Überstunden, um die verlorene Zeit wiedereinzuholen. Ich gebe meine Freizeit her, um mir Sorgen zu ersparen. Ich habe keine Lust, eine « verlorene Kugel » in den Kopf zu bekommen ».

- « Die Leute sind auf deine Ernennung zum Amtsvorsteher eifersüchtig. Sie werden dir nichts schenken. Das kannst du mir glauben ». 

- « Ich weiß es schon. Sag’ mal Pierre, hast du den Eindruck, daß ich wirklich ein Parvenü bin? Denkst du, daß ich nicht würdig bin, diesen Dienst zu verwalten?».

- « Oh nein. Aufrichtig gesagt nein. Im Gegenteil. Alle Leute anerkennen dein persönliches Verdienst und deine Erfahrung. Nachdem Juvenal gegangen war, dachten wir sofort an dich als den einzigen, der die Fähigkeit hatte, an seine Stelle treten zu können. Aber die extremistischen Tutsis dulden nicht, daß ein Hutu sie verwaltet. Öffentlich behaupten sie, daß du neu bist und daß es älterere als dich gibt. Aber der Hauptgrund ist, daß du Hutu bist. Das ist klar ».

- « Ich habe doch nichts getan um die Ernennung für mich zu erwirken ».

- « Von diesen protestierenden Leute hat niemand die erwünschte Fähigkeit, den Dienst zu verwalten. Wir protestieren nur zum Protestieren. Ich sage « WIR », weil ich Tutsi bin, aber ich bin nicht einverstanden mit der Stammesideologie. Nur muss ich mir den Anschein geben, daß ich mit der Gruppe bin. Übrigens, weißt du, warum die Wahl des Präsidenten Ndadaye durch die intellektuelle Klasse der Tutsi bekämpft wurde? Weil er Hutu war. Das ist klar. In ihren Augen war dieser Sieg eine Demütigung, die nur mit Blut gebüsst werden konnte ».

Freundlich und offen unterhielten wir uns während längerer Zeit und merkten, daß wir die Sorgen über die Zukunft unseres Landes gemeinsam trugen. Die sozio-politische Dynamik in Burundi brachten wir auf diesen Punkt: Es fand ein Kampf um die Macht statt, um die exklusiv Verwaltung der Reichtümer, um die Kontrolle über Information und über die Geschichte, sowie um den Einfluß in der Weltöffentlichkeit.

Das Land war arm und überbevölkert, deshalb war die Kontrolle über die Reichtümer eine strategische Frage. Diese nationalen Reichtümer werden missbraucht, um die Macht einer Minderheit zu festigen. Unter solchen Bedingungen war es utopisch, von Demokratie zu reden. In Burundi wurde die Demokratie zum Mittel der Herrschenden, um die wahre Opposition offenzulegen und sie später zu enthaupten.

Das war der Fall 1965. Dasselbe passierte 1993 und es wird wieder der Fall sein, wenn die Leute nicht aus dieser Geschichte lernen. Vor dem Massaker von 1965 wurde der Prinz Rwagasore durch die Tutsi ermordet, durch seine eigenen Brüder, weil sie in ihm eine « öffentliche Gefahr » sahen, weil er die Demokratie einführen wollte. Die Demokratie: nie!

Was die Geschichte betrifft, sie war das wichtigste Element. Die jetzige Regierung hat die Geschichte Burundis geschrieben, um die Wahrheit zu vertuschen. Die verschiedenen Massaker, die dieses Land erleiden mußte, sind auf eine Art dargestellt, als « legale » Antwort gegen die « Angreifer , deren Ziel die Auslöschung der Tutsis » war.

Es wird nie vom Genozid an den Hutu gesprochen. Es wird nie von den Hintergründen gesprochen, warum die Hutu in der Schule und in der Armee untervertreten sind. Und diese Sicht der Geschichte muß unbedingt beibehalten werden, da die Demokratie diese Sicht stören könnte.

Das Resultat war nichts anderes als der Bürgerkrieg. Am 21.10.1993 begann der längste Staatsstreich in der Geschichte Burundis. Im ganzen Lande begannen Hutu und Tutsi sich gegenseitig zu massakrieren.

Morde und Ausschreitungen der Armee nahmen ein schlimmes Ausmass an. Allein in den Monaten November und Dezember 1993 wurden über 100.000 Menschen ermordet, ganz zu schweigen von der massiven Zerstörung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur. Über 700.000 Burunder flüchteten ins Exil nach Tansania oder Zaire. Andere, nach Aussagen humanitärer Organisationen fast 500.000, wurden interne Flüchtlinge.

Eine dauerhafte Lösung wird um so schwerer zu finden sein, je mehr das soziale Netz zerrissen wird. Darum sollen die Massaker sofort aufhören, bevor die Kluft unüberbrückbar wird. Aber das Gleichgewicht der Kräfte in Burundi hatte schon einen so labilen Zustand erreicht, dass jegliche Lösung einen Teil begünstigt und den anderen benachteiligt. Die Lösung liegt nur in der Demokratie. Aber die Demokratie scheint durch Wiedersprüche gehen zu müssen, die keine friedlichen Lösungen erlauben:

Mehrere Tutsi Herrscher aus Burundi waren an verschiedenen Massakern, die das Land in Elend brachten, beteiligt. Sie hatten kein Interesse an einer Veränderung der Kräfteverhältnisse. Die Extremen unter den Tutsi Politikern hatten immer gesagt, daß die Demokratie, die administrativen und militärischen Reformen, eine Gefahr für die gesamte Ethnie der Tutsi bedeute.

Diese werden nach wie vor die Spaltung der Ethnien vertiefen, um weiterhin in dunklen Gewässern fischen zu können. Auf der Seite der Hutus war auch zu befürchten, daß ein gewisser Extremismus aufkommen könnte, um Rache zu verlangen. In mehreren Stadtteilen Bujumburas mussten die Hutu ihr Heim verlassen. Die Tutsis, die in den Stadtteilen Kamenge und Kinama wohnten, folgten den Anweisungen derer, die diese ethnische Säuberung geplant hatten und siedelten um. Wenig später wurden beide Stadtteile vollständig vernichtet.

Die Hutus wurden aus Bujumbura, der Hauptstadt, verjagt und ihr Hab und Gut wurde vernichtet. Ihre Rückkehr konnte Probleme hervorrufen, wenn sie auf ihrem Recht bestehen würden. Kurz gesagt, es schien, daß wir uns in einem Kreis befanden, wo jeder die Decke zu sich ziehen wollte. Dieser Teufelskreis mußte unbedingt durchbrochen werden.

Für uns war das Problem klar. Aber die Weltöffentlichkeit blieb im Unklaren darüber. Eine Diplomatie musste zuerst dieser falschen Meinung über die Hutu und der falschen Angst der Auslöschung der Tutsi entgegenwirken. Später sollte die Demokratie vorbereitet werden, wo jeder sein Interesse hat.

Um allen eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten, sollten wir auf einer neuen Basis aufbauen. Es sollte besonders die ständige Angst, die immer wieder gesät wird, um die Gefahr, der sich Minderheiten ausgesetzt sehen, ausgemerzt werden. Die Minderheiten existieren überall und sollen auch geschützt werden.

Eine Lösung wäre; den Bruch mit der Vergangenheit zu machen. Die alte Wut und persönliche Wahnvorstellungen sollen uns nicht behindern, an die Zukunft zu denken. Hier sollten die moralischen Kräfte sich manifestieren. Es müßten von allen Seiten ehrliche Personen gefunden werden, die bereit sind, mit der Vergangenheit zu brechen. Ihnen solten die Aktionsmittel gegeben werden.

In kürze, es soll eine neue politische Klasse erschaffen werden, die einerseits nicht durch die alte verschluckt wird, anderseits die alte neutralisieren konnte. Das wird ein härterer Kampf, aber diese Herausforderung müsste in Angriff genommen werden. Wenn nötig, sollten alle amnestiert werden und Mechanismen sollten aufgebaut werden, um zu verhindern, daß die « ausgedienten » Politiker ihre ethnische Zugehörigkeit missbrauchen können. Die Weltöffentlichkeit sollte sicher eine wichtige Rolle spielen. Aber man dürfte sich nicht täuschen lassen. Das Problem in Burundi ist in einer Region, wo der Virus der ethnischen Teilung sich schon tief eingefressen hat.

Parallel zu präventiver Diplomatie wäre deshalb eine Militärintervention nötig, die einen Waffenstillstand ermöglichte. Die erste Aufgabe einer solchen ausländischen Militärpräsenz wäre es, die Armee und alle bewaffneten Gruppen voneinander zu trennen und so einen Waffenstillstand zu erreichen. Sodann könnten die burundischen Politiker mit Hilfe der Weltöffentlichkeit über die Zukunft des Landes verhandeln. Sonst werden wir nie aus dem Krieg herauskommen. Eine Gruppe, die heute hinausgeworfen ist, wird den Krieg vorbereiten, um morgen wieder an die Macht zu kommen.

Pierre ängstigte sich ein bißchen während unseres Gesprächs. Wir unterhielten uns noch während einer kurzen Zeit über die soziale und politische Lage und dann fragte ich ihn nach dem Fortschreiten der statistischen Umfragen. Wenig später kam Cyrille hereingestürmt, als ob er uns bei unserer Unterhaltung ertappen wollte. Wir waren gerade dabei, unser Arbeitsprogramm zu analysieren. Höflich erinnerte ich ihn daran, daß ich sein Chef sei und daß er ohne Klopfen nicht in mein Büro treten dürfe. Er tat, als ob er sich entschuldigte, ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

 

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