FACTS: Sie standen plötzlich im Licht der Öffentlichkeit, wurden quasi an die Oberfläche gespült. Wie war das?
Stürm: Ich war nur am Rande betroffen, weil ich im Knast sass. Aber einmal ist mir das gehörig in die Knochen gefahren. Ich war in München und schaute mir eine Sendung von «Aktenzeichen XY ... ungelöst» an. Damals war ich mit einer Lehrerin liiert. Plötzlich rief sie: «Schau, das ist ein Schweizer.» Ich blickte auf und sah mich auf dem Bildschirm. Zum Glück hat sie mich nicht erkannt. Mich hat überhaupt nie jemand erkannt. Wenn ich den Bart abschneide, bin ich ein anderer Mensch.
FACTS interviewt diesen Sommer Menschen, die einst berühmt waren und Schlagzeilen machten, um die es jetzt aber still geworden ist. Bisher erschienen: Alexandra Sprüngli (FACTS 32/1998).
Autor: Interview: Simon Hubacher und Bettina Mutter; Pirmin Rösli (Fotos)
FACTS: Herr Stürm, auf Ihren Raubzügen haben Sie eine Menge Geld erbeutet. Wo bewahren Sie es auf?
Walter Stürm: Dort, wo alle andern auch: auf der Bank. Nur lauten die Konten nicht auf meinen Namen.
FACTS: Und wie viel Geld horten Sie?
STÜRM: Das kann ich nicht sagen. Ich habe in einer Zeit eingebrochen, in der wahnsinnig viel Geld vorhanden war. Damals wurden die Löhne noch bar ausbezahlt. Es war paradiesisch.
FACTS: Man sagt, dass Sie nur bei reichen Leuten eingebrochen sind.
STÜRM: Mit Privatpersonen hatte ich nie etwas zu tun. Ich habe bewusst die Anonymität gesucht und vor allem Banken oder Aktiengesellschaften ausgewählt. Ich wollte mich später nicht an ein Gesicht erinnern müssen. Das klingt vielleicht etwas billig, aber so war es wirklich. Es belastete mich einfach weniger.
FACTS: Mehrere Delikte, die Ihnen vorgeworfen werden, bestreiten Sie. Was geben Sie zu?
STÜRM: Ich bin der Meinung, dass ich gar nichts zugeben muss. Die Justiz soll die nötigen Schuldbeweise vorweisen. Das ist überall so üblich - offenbar nur nicht in der Schweiz. Hier werden Leute wahllos eingelocht, bis sie irgendetwas zugeben. Die Schweizer Justiz ist unfähig, eine Strafuntersuchung zu führen, die ihren Namen verdient. Statt Beweise zu suchen, übt man Druck auf die Verdächtigen aus.
FACTS: Heisst das, dass Sie gar keine Urteile akzeptieren?
STÜRM: Doch. Beispielhaft ist das Zürcher Urteil, das über mich gesprochen wurde. Obwohl es mir nicht passt, habe ich nicht reklamiert. Wir wurden damals zu dritt verhaftet. Zwei haben geredet, ich schwieg. Deshalb musste ich zwei Jahre länger sitzen. Aber ich wurde für etwas verurteilt, das ich getan hatte.
FACTS: Sie meinen den Banküberfall in Hinwil. Sie sollen dort einer Angestellten die Pistole über den Kopf gezogen haben.
STÜRM: Die Frau bekam wohl eine Pistole über den Kopf gezogen. Im Urteil steht aber nirgends, ich hätte das getan.
FACTS: Bereuen Sie einige Ihrer Taten?
STÜRM: «Hinwil» hätte nicht passieren dürfen. Das war eine blöde Geschichte.
FACTS: Sie bekennen sich zur Gewaltlosigkeit?
STÜRM: Gewalt widerstrebt mir. Ich war bei meinen Einbrüchen nie bewaffnet. In der Regel hat man einen Kumpel, der aufpasst. Ich hörte auch immer den Polizeifunk ab. Das reichte.
FACTS: Sie haben nie von einer Schusswaffe Gebrauch gemacht?
STÜRM: Doch, einmal, in Barcelona. Ich holte auf der Post Geld und legte die Geldmappe ins Auto. Als ich an einer Ampel anhalten musste, sprach mich eine junge Frau an. Plötzlich schnappte jemand mein Geld. Die Frau war eine Komplizin. Ich zwang sie ins Auto und fuhr zu meiner Wohnung. Dort holte ich einen Revolver. Dann fuhren wir zu den anderen. Sie wollten das Geld nicht herausrücken. Was blieb mir übrig? Ich hielt einem der Männer die Waffe auf die Hand und zählte bis zehn. Bei neun wusste ich: Wenn ich jetzt nicht schiesse, ist es aus. Also habe ich ihm in die Hand geschossen. Prompt bekam ich Geld und Pass wieder zurück.
FACTS: Wir treffen Sie im Bahnhofbuffet Lugano, als wären Sie ein freier Mann. Sie werden nicht einmal begleitet.
STÜRM: Ich habe Rückenprobleme und muss in die Physiotherapie. Der offene Strafvollzug ist bei Rückfälligen nach der Hälfte der Strafe möglich. In meinem Fall wäre er bereits früher dringelegen, weil ich nach Gesetz als erstmals Verurteilter galt. Aber ich hatte Streit mit den Walliser Behörden. Nach einem Hungerstreik klappte es dann plötzlich. Und weil der Direktor der Strafanstalt La Stampa keine Schwierigkeiten macht.
FACTS: Die Walliser Behörden hingegen sind für Sie ein rotes Tuch.
STÜRM: Allerdings. Im Wallis verlangte der Gefängnisdirektor, dass ich ein Gesuch stelle für eine so genannte Entlassungsanwärterstufe. Weil ich am 23. März 1998 so oder so hätte bedingt entlassen werden müssen, weigerte ich mich. Nach langem Hin und Her trat ich deshalb in den Hungerstreik.
FACTS: Sind die Rückenleiden eine Folge des Strafvollzugs?
STÜRM: Zum Teil. Ich habe seit längerem eine krumme Wirbelsäule. Doch die Schmerzen sind immer schlimmer geworden. In den Gefängniszellen fehlt der Platz zum Turnen. In Freiheit ging es mir jeweils besser, weil ich schwimmen ging und regelmässig turnte. Möglicherweise muss ich mich operieren lassen.
FACTS: Wie fühlen Sie sich sonst?
STÜRM: Ich kann nicht klagen. Aber ich bin jetzt 56 Jahre alt.
FACTS: Was hält Sie davon ab, erneut das Weite zu suchen? So, wie Sie es bereits achtmal getan haben.
STÜRM: Ich will jetzt wissen, was das Bundesgericht zu meiner Beschwerde sagt. Das warte ich ab.
FACTS: Sie wären 1995 in Orbe VD besser nicht getürmt. Dann wäre jetzt nämlich alles vorbei.
STÜRM: Nein, damals war ich derart kaputt, dass mir keine andere Wahl blieb. Nach sechs Jahren Isolationshaft war ich am Ende. Die wollten mich fertig machen. Ich musste fliehen.
FACTS: Was haben Sie nach Ihrer Flucht gemacht?
STÜRM: Mir ein Wohnmobil genommen ...
FACTS: ... genommen?
STÜRM: Gekauft. Es kommt ab und zu vor, dass ich ein Auto kaufe.
FACTS: Falls das Bundesgericht Ihre Beschwerde ablehnt, müssen Sie weitere drei Jahre im Gefängnis bleiben. Planen Sie schon den nächsten Ausbruch?
STÜRM: Das gehört bei mir zum Leben. Ich bin früh aus dem normalen Leben ausgestiegen. Wenn man flüchtet, spielt es gar keine Rolle, ob man gesucht wird oder nicht. Man ist einfach draussen. Das ging bei mir so weit, dass ich keine Probleme damit hatte, auch mal einen Polizisten nach dem Weg zu fragen.
FACTS: Was braucht es für eine Flucht?
STÜRM: Eine gute Vorbereitung. Ist der Entscheid einmal gefallen, muss man einfach den besten Weg suchen.
FACTS: Ein Leben auf Kurve kostet bestimmt viel Geld.
STÜRM: Klar. Ich musste ständig Wohnungen wechseln, alles stehen und liegen lassen und weiterziehen. Das war teuer. Dazu kam, dass ich immer Frauen kennen lernte, die ausser einer Matratze und einem Radio kaum etwas besassen. Ich habe in meinem Leben sicher schon über 50 Wohnungen eingerichtet.
FACTS: Offenbar ist es kein grosses Problem, im Gefängnis einen Ausbruch vorzubereiten.
STÜRM: Nein. Als ich in Regensdorf isoliert war, hatte ich in einer Marlboro-Schachtel ein Funkgerät versteckt, mit dem ich Kontakt zu Freunden ausserhalb der Gefängnismauern aufnehmen konnte. Das Päckchen stand immer auf dem Tisch. Das hätte man bei jeder Zellenkontrolle entdecken können, aber niemand dachte, dass da etwas drin ist.
FACTS: Waren Sie bei Ihren Ausbrüchen bewaffnet?
STÜRM: Eine Pistole war manchmal nötig, um zu verhindern, dass mir einer nachrennt, wenn ich über die Mauer wollte. Mit der Waffe hätte ich dann einfach einige Schreckschüsse abgeben können. In Regensdorf beispielsweise wurde die Pistole in einem Toilettenkübel ins Gefängnis geschmuggelt. Das funktionierte, weil die Kübel einmal pro Woche ausserhalb der Gefängnismauern gewaschen werden. Als im Hof die Strickleiter heruntergelassen wurde, lief ich los. In diesem Augenblick fuhr ein Heizölwagen vor. Ich lief weiter. Ein Aufseher stand dort und fragte verdutzt: «Herr Stürm, wo gonder ane?» Er war aus Schaffhausen. Ich antwortete lachend: «Auf Kurve.» Der dachte wohl, ich würde einen Witz machen, und lachte auch.
FACTS: Weshalb misslang die Flucht?
STÜRM: Der Chauffeur des Tankwagens rannte los und rüttelte derart an der Leiter, dass ich hinunterfiel.
FACTS: 1992 begingen Sie zwei Selbstmordversuche. Weshalb?
STÜRM: Nach dreieinhalb Jahren Isolationshaft war ich fix und fertig.
FACTS: Wie wollten Sie sich töten?
STÜRM: In den Gefängnissen wird alles mit riesigen Medikamenten-Mengen geregelt. So konnte ich mir einen Vorrat an Rohypnol-Tabletten beiseite legen.
FACTS: Hatten Sie wirklich mit dem Leben abgeschlossen?
STÜRM: Neunzig Prozent aller Selbstmordversuche im Gefängnis sind Hilferufe. Bei mir war es nicht so. Ich war fertig. Beim ersten Mal habe ich etwa 50 Pillen geschluckt. Leider habe ich erst später erfahren, das das nicht reicht. Beim zweiten Versuch ist der Gürtel meines Morgenmantels gerissen, mit dem ich mich zu erhängen versuchte.
FACTS: Wurden danach besondere Sicherheitsmassnahmen eingeführt?
STÜRM: Nein, im Gegenteil. Sie haben mir alles gelassen, auch die Medikamente. Für die Behörden wäre es wohl die beste Lösung gewesen, wenn ich mich umgebracht hätte.
FACTS: Erzählen Sie von Ihrem Alltag.
STÜRM: Wir bilden zu zweit die Küchenmannschaft für 30 bis 35 Leute. Morgens um 6.30 Uhr stellen wir das Frühstück bereit. Mittags müssen wir das Essen verteilen, das von der Zentralküche kommt. Früher kam auch das Abendessen von dort. Aber die Teigwaren schmeckten jeweils wie Gummi, weil das Zeug so lange herumstand. Jetzt schicken sie uns die Zutaten, und wir kochen selber.
FACTS: Sind die Mitgefangenen zufrieden mit Ihren Kochkünsten?
STÜRM: Und wie. Ich bin erstaunt, weil ich nur Komplimente erhalte. Gestern Abend kochte ich einen Safranrisotto. Das war ziemlich schwierig. Am Schluss musste ich hetzen, damit das Essen rechtzeitig auf dem Tisch stand.
FACTS: Wo haben Sie kochen gelernt?
STÜRM: Ich habe immer Frauen kennen gelernt, die zwar intelligent waren und gut diskutieren konnten. Aber wenn es ums Kochen ging, war Essig. Die haben nur Büchsen aufgemacht.
FACTS: Sie haben Ihre Freundinnen über Ihre Vergangenheit im Ungewissen gelassen?
STÜRM: Selbstverständlich. Ich konnte denen doch nicht sagen, was los ist. Damit hätte ich mich in Gefahr gebracht. Wenn eine Frau neugierig wurde, sagte ich immer: Ich hatte ein Leben, das hinter uns liegt. Du darfst keine Fragen stellen. Sonst gehen wir auseinander.
FACTS: Sie sind achtmal ausgebrochen. Sind die Sicherheitsvorkehrungen so ungenügend?
STÜRM: Die Leute haben völlig falsche Vorstellungen von Gefängnissen. Ich habe immer gefunden, was ich brauchte. Das muss man nur gut organisieren.
FACTS: Spätestens in drei Jahren sind Sie ein freier Mann. Und dann?
STÜRM: Ich weiss es nicht. Ich werde mich weiterhin für Benachteiligte engagieren. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, habe ich das immer laut gesagt.
FACTS: Bekommen Sie Besuch?
STÜRM: In erster Linie von meiner Familie. Für meine betagte Mutter ist die lange Reise aus der Ostschweiz ins Tessin inzwischen zu anstrengend. Aber meine Schwester und meine Cousine kommen regelmässig. Meine Familie hat immer zu mir gehalten, auch wenn ich das nie von ihr verlangt habe.
FACTS: Gab es andere Unterstützung?
STÜRM: Zeitweise habe ich 50 bis 60 Zuschriften in der Woche erhalten. Ich habe sie alle beantwortet. Und dann gab es diese Briefe von mehrheitlich älteren Damen, die mir schreiben, ich sollte doch an Gott glauben. Das war manchmal ziemlich anstrengend.
«Ich kann nicht klagen. Aber ich bin jetzt 56 Jahre
alt.» Walter Stürm
Stürm: In Spanien. Dort fühle ich mich sehr wohl. Es läuft alles locker ab, ich habe keine Sprachprobleme, und es ist warm. Man kann das ganze Jahr über schwimmen, und die Temperaturunterschiede sind nicht so gross.
Walter Stürm, 56, ist seit 35 Jahren unterwegs. Achtmal ist er aus Strafanstalten entflohen, in Zürich, Arlesheim BL, Basel, Lenzburg AG, Orbe VD und mehrmals in Regensdorf ZH. Für die politische Linke war der gelernte Karosseriespengler in den siebziger und achtziger Jahren Symbolfigur im Kampf gegen die Isolationshaft und für den offenen Strafvollzug. Prominente Kulturschaffende und Politiker - etwa Regisseur Rolf Lyssy, Autor Niklaus Meienberg, Psychoanalytiker Paul Parin oder Nationalrätin Lilian Uchtenhagen - hatten 1980 mit Zeitungsinseraten Stürms sofortigen Haftunterbruch gefordert. Hunderte demonstrierten in Zürichs Strassen, um seine Verlegung aus der Isolationshaft zu erwirken.
++ hungerstreik
Bürgerliche hingegen sahen im Sankt-Galler nur einen renitenten Häftling, der den Rechtsstaat unterwandert. 1987 zwang Stürm die Behörden in einem über hunderttägigen Hungerstreik, ihn in eine normale Zelle zu verlegen. In lebensgefährlichem Zustand wurde Stürm ins Spital eingeliefert. Wenig später flüchtete er aus Regensdorf auf die Kanarische Insel La Gomera. Dort wurde er nach 16 Monaten gefasst.
Einen Tiefpunkt erreichte Walter Stürm 1994. Das Kantonsgericht Wallis verurteilte ihn zu zehneinhalb Jahren Zuchthaus.
++ warten aufs urteil
Heute wartet Stürm in der Strafanstalt La Stampa in Lugano auf ein Bundesgerichtsurteil. Die Richter sollen entscheiden, ob Stürm Anrecht auf bedingte Haftentlassung hat. Im März hatte er zwei Drittel der Strafe abgesessen.
++ mann mit vielen gesichtern
«Wenn ich den Bart abschneide, bin ich ein anderer Mensch»: Stürm 1976, 1979 und unbekannten Datums (von links).