Die Darstellung von Menschen (insbesondere denen außerhalb
Westeuropas und Nordamerikas) als wimmelndes Getier fördert den Fatalismus.
Obwohl bisweilen ins Groteske übertrieben, enthalten die Schreckensszenarien
immer auch Versatzstücke einer realen Problembeschreibung, und nicht
jede Katastrophenprognose, die zu (bevölkerungs-)politischen Zwecken
funktionalisiert wird, ist deswegen frei erfunden.5
Das Problem liegt gerade in dem Sammelsurium von Fakten, Meinungen und
politischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden sowie in der Anmaßung,
biologische Antworten auf gesellschaftliche Fragen geben zu können.
Trotz aller scharfsinnigen Kritik hat sich der Biologismus in der Gesellschaftswissenschaft ebenso wie in der Politikberatung einen festen Platz erobert. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die zahlreichen Globalstudien über die Begrenztheit der Ressourcenvorräte, die zunehmende Umweltverschmutzung und das Bevölkerungswachstum, die seit den 70er Jahren entstanden sind und von denen hier nur die bekanntesten genannt werden können: Der Club of Rome, ein Verein illustrer Männer aus Industrie und Wissenschaft, gab 1972 den vom Massachussetts Institute of Technology erarbeiteten Bericht "Die Grenzen des Wachstums" heraus9 ; im Jahr 1979 erschien die Studie "Global 2000: Bericht an den Präsidenten", zwei Jahre später der sogenannte Brandt-Report "Das Überleben sichern" als Bericht der Nord-Süd-Kommission. Der Brundtland-Report führte 1987 eine neue Komponente in die Debatte um Ressourcen und Bevölkerung ein: Die Idee der "nachhaltigen Entwicklung" ist seither zum festen Bestandteil ökologischer und ökonomischer Entwicklungsmodelle geworden. Ziel ist eine Entwicklung, so der Brundtland-Report, "die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können".10 Sowohl die Definition von "nachhaltiger Entwicklung" als auch die Antwort auf die Frage, was zu deren Realisierung zu tun sei, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. So variieren die Positionen, welche Ressourcen als knapp und lebenswichtig für künftige Generationen angesehen werden ebenso wie die Ansichten darüber, ob die Veränderung der Umwelt nicht auch unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Konsequenzen betrachtet werden müßte. Wenn zum Beispiel Abholzungen zugunsten eines Staudammprojekts durch Anpflanzungen an anderer Stelle kompensiert werden, so könnten sie – unter ökologischen Gesichtspunkten – als "neutral" gelten. Unbedenklich sind sie deswegen noch lange nicht: Wenn die Frauen in den angrenzenden Dörfern aufgrund der Abholzungen gezwungen werden, zum Feuerholzsammeln einen wesentlich weiteren Weg zurückzulegen, so kann von "Neutralität" keine Rede mehr sein.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß die Globalanalysen
"Entwicklung" ebenso wie Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch als
meßbare Größen behandeln. Sie haben so zu der Erkenntnis
beigetragen, daß die Menschen in den Industrieländern die Ressourcen
im Pro-Kopf-Durchschnitt weit mehr beanspruchen, als diejenigen in den
Ländern des Südens. Auf diese Weise werden aber nicht nur die
Unterschiede zwischen Arm und Reich innerhalb der westlichen Metropolen
ignoriert, vielmehr werden die verschiedenen "Maßeinheiten" als kompatibel
angesehen: Demnach wäre also eine Verordnung zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes
im privaten Autoverkehr gleichermaßen ein Beitrag zur "Nachhaltigkeit"
wie eine Familienplanungskampagne oder die Einführung von Langzeitverhütungsmitteln
in einem asiatischen Land. Eben dies aber müßte eigentlich dazu
führen, die Frage nach den Machtverhältnissen zu stellen, die
in fast allen Globalstudien ausgeblendet bleibt: Wer hat die ökonomische
oder politische Macht, wem welche Vorschriften zur Rettung des Planeten
zu machen? Die Kritik trifft nicht nur auf die Globalstudien, sondern auch
auf Studien über nachhaltiges Wirtschaften in einzelnen Industriestaaten
zu.11 Die Szenarien abstrahieren
in der Regel ebenso von den politischen Machtverhältnissen wie von
den Geschlechterverhältnissen und den Unterschieden zwischen Frauen
und Männern im Umgang mit den Ressourcen. Das Denken in Globalkategorien
hat die Vorstellung gefördert, daß "Bevölkerung" ein Faktor
sei, der in die Welt-Ressourcen- und Verschmutzungsgleichung mit einbezogen
werden müsse. Daraus ist meist im nächsten Schritt abgeleitet
worden, daß Bevölkerungspolitik im Zentrum aller Maßnahmen
zur Sicherung der ökologischen Zukunft stehen müsse – in erster
Linie selbstverständlich in denjenigen Ländern, in denen das
Bevölkerungswachstum besonders hoch ist. Diese Sichtweise hat sich
auch in der neueren bevölkerungspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik
durchgesetzt. (...)
Schon der Maßstab des "Pro-Kopf-Einkommens" ist problematisch, denn er suggeriert, daß sich Wohlergehen (und damit wird ein hoher Lebensstandard oder ein hohes Pro-Kopf-Einkommen im westlichen Entwicklungsmodell gleichgesetzt) quantifizieren ließe und so alle verschiedenen Lebensweisen auf der Erde nach einem universal gültigen Maßstab miteinander verglichen werden könnten.12 Zudem basiert die Argumentation auf sogenannten aggregierten makro-ökonomischen Größen: Das Pro-Kopf-Einkommen wird (ebenso wie die Nachfrage und andere Größen) im jeweiligen Landesdurchschnitt errechnet, wobei dann die erheblichen Unterschiede zwischen Angehörigen einer superreichen Oberschicht und Besitzlosen in der Statistik zu einem niedrigen Durchschnitt zusammengerechnet werden. (...)
Auch die Annahme, daß die Kapitalbildung in den "Entwicklungsländern" dadurch verhindert wird, daß alle Überschüsse von einer wachsenden Bevölkerung konsumiert werden, ist eher fraglich. Häufig werden die Überschüsse zwar erwirtschaftet, nur nicht im Lande selbst produktiv investiert, sondern ins Ausland transferiert oder von Angehörigen der Oberschicht in Luxuskonsumgüter umgesetzt.13 Zudem bleiben wichtige Bereiche der Volkswirtschaft wie etwa die Selbstversorgungslandwirtschaft ganz aus der Analyse ausgeklammert, weil die dort geschaffenen Werte nicht in Geld oder "Pro-Kopf-Einkommen" umgerechnet in die Statistik eingehen.
(...) Reiche Länder können nach dieser Logik gar nicht
"überbevölkert" sein. Die Identifikation von Armut mit "Überbevölkerung"
läßt die Forderung nach weitreichenden Eingriffen gegenüber
den "überbevölkerten" Ländern umso gerechtfertigter erscheinen,
weil ihre "Unfähigkeit", mit den Problemen des eigenen Landes fertig
zu werden, scheinbar offenkundig ist. Bevormundung braucht daher nicht
erst legitimiert zu werden, sondern wird von denen, die sie ausüben,
als Hilfe verstanden. Ein Leser der FAZ dachte diese autoritäre Logik
wie folgt weiter: "Können die 960 Millionen Analphabeten wirklich
gleichberechtigt dazugehören? Muß nicht auch für die weiteren
fünf Millliarden Menschen in den Entwicklungsländern (...) Vormundschaft
übernommen werden? Es wird Zeit, daß die demokratisch regierten
Industrienationen ihre Skrupel beiseite legen und sich zu einer Weltregierung
aufschwingen, die sich von Wissen und Vernunft leiten läßt,
um das Leben auf dem erreichten Niveau zu retten."14
Von einer Vorstellung des Menschen als biologisch determiniertem Lebewesen gehen auch die SoziobiologInnen und VerhaltensforscherInnen aus, deren Erkenntnisse im Kontext der Überbevölkerungsdebatte eine neue Popularität erfahren haben. Aggressivität, Egoismus, Machtstreben und ein "ausbeuterischer Drang" gegenüber der Natur sind nach Ansicht des Verhaltensforschers und Konrad-Lorenz-Schülers Irenäus Eibl-Eibesfeldt ebenso angeboren wie das Bestreben, den "Fortpflanzungserfolg" zu maximieren. Ähnlich wie in der Populationsbiologie wird zur Untermauerung dieser These der Mensch mit allen möglichen anderen Lebewesen von der Graugans bis zur Bakterie gleichgesetzt. "Organismen", so der Verhaltensforscher, "nutzen opportunistisch jede Chance, möglichst viele Nachkommen in die Welt zu setzen, und zwar ohne jede Voraussicht".17 Mit einer etwas anderen Begründung nähert sich die Soziobiologie so wieder an die Positionen von Malthus an: "Überbevölkerung" als Ausdruck eines ehernen Naturgesetzes entwickelt sich quasi von allein, es sei denn, dem menschlichen Trieb wird Einhalt geboten. Was zunächst noch als purer Biologismus erscheint, geht im Fall des Biologen Eibl-Eibesfeldt auch in offenkundigen Rassismus über, wenn vom Geburtenrückgang in Europa die Rede ist. Dieser wird nicht als Linderung des zuvor rein biologisch begründeten Bevölkerungsproblems begrüßt, sondern als erster Schritt zum Aussterben eines Volkes gefürchtet. Mögliche positive Auswirkungen sinkender Geburtenraten werden laut Eibl-Eibesfeldt von einer "völlig irrationalen Einwanderungspolitik zunichte gemacht", die zudem die Gefahr "massiver biologischer Unterwanderung" mit sich bringe.18
Susanne Heim und Ulrike Schaz: Berechnung und Beschwörung: Überbevölkerung - Kritik einer Debatte Berlin; Göttingen: Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Strasse 1996 248 Seiten, 29.80 DM ISBN 3-924737-33-9