Als die Welthandelsorganisation WTO im Mai letzten Jahres in Genf ihre zweite Ministerialkonferenz veranstaltete, fanden sich in Genf achttausend, weltweit in verschiedenen Aktionen Zehntausende Demonstrierende ein, um gegen die Machtverhältnisse zu protestieren, die von der WTO mit zementiert werden. [1] Einigen der StrategInnen der Deregulierung scheint die Aussicht auf öffentliche Proteste in die Glieder gefahren zu sein. Als sich am 23. September desselben Jahres auf seine Initiative hin UN-VertreterInnen und Topmanager von Konzernen zum Geneva Business Dialogue trafen, fühlte sich Helmut Maucher, Nestlé-Verwaltungsratspräsident und Präsident der Internationalen Handelskammer ICC-WBO (International Chamber of Commerce/World Business Organization), jedenfalls veranlasst, die Proteste - deren UrheberInnen "gut daran täten, sich zu legitimieren" [2] - zu verurteilen und Staatsregierungen dazu aufzurufen, ihre polizeilichen Aufgaben wahrzunehmen.
Nun soll es in Seattle, wo vom 30. November zum 3. Dezember die dritte Ministerialkonferenz stattfinden wird, noch schöner kommen. Bereits im Vorfeld kämpft die WTO mit Legitimationsproblemen. "Du brauchst nur die Zeitung aufzuschlagen, um zu wissen, dass die Anti-WTO-Kräfte bisher erfolgreicher waren als wir," klagte jüngst Scot Montrey, Sprecher der U.S. Alliance for Trade Expansion, einer US-Koordination von Großkonzernen. [3] Michael Dolan, der als Vizedirektor der von Ralph Nader gegründeten Public Citizen's Global Trade Watch die Proteste gegen das WTO-Treffen mitorganisiert, freut sich: "Ich war begeistert, als sie Seattle ausgewählt haben. Es ist fast so, als ob sie uns Heimvorteil gewährten." [4]
Von linksradikalen und progressiven Basisgruppen (Grassroots), NGOs und Gewerkschaften sind eine Reihe von Aktivitäten um die Ministerialkonferenz geplant: Straßentheater, Aktionen zivilen Ungehorsams bis hin zu Großdemos. Von diesem Kreis auf Distanz gehalten, aber im Vorfeld der Proteste dennoch sehr präsent, sind auch rechtsextreme Republikaner sowie essenzialistisch argumentierende konservative Umweltorganisationen wie der Sierra Club. Verlangen die Republikaner - wie die radikale Linke - von der US-Regierung den Ausstieg aus der WTO, fordert der Sierra Club - wie die etablierten Links-NGOs - eine Einbindung der "Zivilgesellschaft", also ihrer selbst, in die Entscheidungsprozesse in der WTO.
Das Verwischen des Unterschieds zwischen linken und rechten Ansätzen ist gerade in Seattle gut sichtbar. Der Stadtrat hat das Stadtgebiet als MAI-freie Zone (MAI - Multilaterales Abkommen über Investitionen) ausgerufen. Angeregt wurde die symbolische Antiglobalisierungsmaßnahme von Brian Derdowski, republikanischer Abgeordneter im Rat von King County, wo ebenfalls eine solche Zone eingerichtet wurde. [5]
Auf US-Ebene sieht John Talbott, Sprecher der Reformpartei, im Antiglobalisierungsdiskurs von Ralph Nader von links, und von Pat Buchanan von rechts, nur unwesentliche Unterschiede und fordert die Bildung einer neuen Partei: diese soll weder links noch rechts angesiedelt sein und die malochenden US-amerikanischen ArbeiterInnen repräsentieren. Dabei unterschlägt er die rassistische, sexistische und homophobe Haltung Pat Buchanans. Dessen rechter "produzentistische" (engl. producerist [6]) Populismus bezieht sich auf eine arbeitsame, "produktive" Mittel- und ArbeiterInnenschicht, die von "faulen sozialen Parasiten" von oben und von unten ausgequetscht werde. [7]
Was ist schiefgelaufen, dass eine der größten linken Mobilisierungen der letzten Jahre - jene gegen "Freihandel", gegen "Globalisierung", gegen "transnationale Konzerne" und speziell gegen das MAI - für rechtskonservative Gruppen so attraktiv ist?
Im Juni 1999 entschied sich die niederländische antirassistische Gruppe De Fabel van de illegaal, die wesentlich zum Aufbau einer starken Bewegung gegen das MAI beigetragen hatte, die Kampagnen gegen "Freihandel" zu verlassen. "Nach genauerem Hinsehen kamen wir zum Schluss, dass die Wahl des "Freihandels" als Hauptstoßrichtung aus einer radikal linken Sicht nicht einleuchtet, sondern aus einer Analyse der Neuen Rechten abgeleitet ist," erklärt die Gruppe im September 1999 in einem offenen Brief. Bereits ein Jahr zuvor, im Oktober 1998, hatte sie ein erstes Diskussionspapier publiziert: "Mit der ,Neuen Rechten' gegen die Globalisierung?" [8] Es folgten eine Reihe von Artikeln, in denen sie sich mit verschiedenen Schwächen des Diskurses über "Globalisierung" und "Freihandel" sowie mit Personen, die als Bindeglieder zwischen linken und rechten AktivistInnen und Gruppen fungieren, auseinandersetzt.
In seiner Analyse der Krise des Antirassismus beschreibt Pierre-André Taguieff die Aneignung linker Diskurse durch NeorassistInnen als Retorsion (nicht im Sinne von Vergeltung, sondern frz.: Verwendung eines Arguments gegen dessen UrheberIn). [9] Es stellt sich die Frage, wann ein linker Diskurs offen ist für Retorsion. Oder umgekehrt: Wie müsste ein Diskurs strukturiert sein, damit er nicht neurechter Propaganda zudient. Ich will hier fünf Eigenheiten betrachten, die Diskurse über "Freihandel" und "Globalisierung" für Retorsion geeignet machen: eine verkürzte Kapitalismuskritik, verbunden mit einer unkritischen Haltung gegenüber dem nationalen (Sozial-) Staat, Emotionalisierung, ein Verschwörungsansatz, und die Rede von der "Natur"-zerstörenden Moderne.
Die Rede von der Globalisierung passt deshalb so gut in die rechtsrassistische Rhetorik, weil darin ein internationales, nicht ortsgebundenes Kapital für verantwortlich erklärt wird für wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten. Die verkürzte Analyse übersieht die Rolle des lokalen Kapitals im Akkumulations- und Ausbeutungsprozess und erlaubt so die Forderung, dieses gegenüber dem internationalen Finanzkapital, das künstlich vom "produktiven Kapital" getrennt wird, zu verteidigen. Karl A. Schachtschneider, der mit anderen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Klage gegen die Währungsunion eingereicht hat, in der Rechtsaußen-Zeitung Junge Freiheit: "Wir werden noch weiter in die Globalisierung hineingestoßen werden. Das wird für die sozialen Spannungen als große Erklärung herhalten. Wir müssen mit Sklavenarbeit konkurrieren." [10]
Besonders anfällig für die nationalchauvinistische Retorsion sind jene, die wie Teile der Anti-MAI-Bewegung, oder wie jene trotzkistischen und anderen altlinken TheoretikerInnen in Le Monde Diplomatique, den Sozialstaat verteidigen. Da sie ihr geliebtes Objekt als geschichtslos und losgelöst vom Kolonialismus und den Bedingungen der keynesianischen Ära beschreiben, fällt ihnen anscheinend nicht auf, dass der Nationalstaat mit der Deregulierung keineswegs verkümmert. Auch wollen sie nicht wissen, dass es nationalstaatliche Regierungen sind, die die Deregulierung vorantreiben - und sich dabei für ihren Nationalstaat Vorteile erhoffen. [11]
Der imperialistische Nationalstaat dient den Konzernen als Türöffner, indem seine Regierung auf diplomatischem und militärischem Weg auf abhängige Regierungen Druck ausübt. VertreterInnen der großen US-Konzerne und der US-Diplomatie etwa arbeiten beim Zugriff auf neue Investitionszonen eng zusammen. In diesem Feld der Verflechtungen kommen die Bemühungen der einen US-Konzerne auch anderen US-Konzernen zugute. Um dieser Verflechtung zwischen Konzernen und "ihrer" Regierung gerecht zu werden, haben denn auch kritische BeobachterInnen in den letzten Jahren den ortslosen Begriff des multinationalen Konzerns (des Multis) durch den des transnationalen Konzerns ersetzt, der in einem Land verankert ist, aber von dort aus "über die Landesgrenzen hinaus" (transnational) tätig ist.
Der Globalisierungsdiskurs klinkt sich leicht in Verschwörungstheorien ein, wie sie bereits in der Phrase der Politikverdrossenheit auf nationalstaatlicher Ebene aufscheinen - "Die in Bern/Berlin/Wien tun ja doch nur, was sie wollen." Über die nationale Ebene hinaus, wo die Distanz zu den relevanten Gremien größer ist, brechen sie erst richtig aus.
Nicht mehr Prozesse der Produktion und Kapitalakkumulation stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern Clubs einflussreicher Männer (und einiger Frauen), die hinter verschlossener Tür die Zukunft der Welt aushandeln. Die Empörung über die anfangs geheimen Verhandlungen in der OECD war ein tragendes Moment der Mobilisierung gegen das MAI. Da die Akteure der "Globalisierung" in dieser Lesart so mächtig und ihre Geschäfte so geheimnisvoll sind, ist es auch kaum möglich, gegen sie Widerstand zu leisten. So beschränkt sich dann die Arbeit der VerschwörungstheoretikerInnen auf missionarische "Aufklärung" über die Gefahren der "Neuen Weltordnung" (ein Begriff, der auf den verschwörungsorientierten Web-Sites durch die Abkürzung NWO verdinglicht wird [12]), der Bilderberg-Treffen [13] oder des World Economic Forum [14].
Ein beträchtlicher Teil auch der linken Abwandlungen des Diskurses über "Globalisierung" funktioniert über eine Emotionalisierung, ein Abrufen von Ängsten vor der Bedrohung der eigenen Lebensgrundlagen durch "multinationale Konzerne". Dies ist z.B. bei den Kämpfen gegen Monsanto und andere Gentech-Konzerne sehr ausgeprägt. Eine solche Emotionalisierung lenkt von Gesellschaftsanalysen ab und macht empfänglich für andere emotionalisierte Diskurse - auch jene von rechts.
In Teilen der ökologischen Linken wird die wahrgenommene Bedrohung der Lebensgrundlagen nicht so sehr als Machtverhältnis zwischen sozialen Gruppen gelesen, sondern als Zerstörung der "Mutter Erde" durch eine außer Kontrolle geratene "moderne Welt". Traditionell linke Ideen über Selbstverwaltung und Autonomie vermengen sich mit tendenziell rassistischen Regionalismusdiskursen, linke Technologiekritik erhält Verstärkung von essenzialistischen und faschistoiden Diskursen über ein Leben im Einklang mit der "Natur", ein Leben "nach den natürlichen sozialen Gesetzen von Gaia" (so Edward Goldsmith [15], Gründer und Chefredaktor der auch in der Linken international gelesenen Zeitschrift "The Ecologist").
Die Retorsion kann, wenn man diese Kriterien berücksichtigt, erheblich erschwert werden. In der Vorbereitungsarbeit für die Innenstadt-Aktionswoche im Juni 1997 holten sich viele AktivistInnen das Rüstzeug zu Analysen des Weltmarktes, des Standortwettbewerbs und den Mythen der Globalisierung, die nicht so schnell von Retorsion heimgesucht werden dürften. Der Blick auf lokale Auswirkungen globaler Prozesse, die materielle Verankerung der Analyse, vor allem aber die Verbindung mit einer kritischen Einschätzung des "öffentlichen Raums" samt seiner rassistischen Regulierung, lassen sich nicht so schnell in einen rechten Diskurs einbinden.
Während der Vorbereitung zu den Protesten in Seattle kamen Links-Rechts-Überschneidungen wiederholt zur Sprache. Eines der involvierten Grassroots-Netzwerke, die PGA (Weltweite Aktion gegen "Frei"handel und die WTO [16]), beschloss im August an seiner zweiten Konferenz in Bangalore, Indien, seinen Kampf nicht weiter gegen "Frei"handel, sondern gegen den Kapitalismus zu richten. In den Vorbereitungen für Seattle wurde aber auch klar, dass im Sinne einer massiven Mobilisierung eine breite Zusammenarbeit möglich und wünschenswert ist. Es scheint den radikaleren Gruppen und AktivistInnen im Vorfeld der Aktionen auch gelungen zu sein, einem breiteren Umfeld ihre Kritik an retorsionsanfälligen Haltungen darzulegen. Insbesondere die aus dem Umfeld der PGA lancierten Karawanen [17] mit ihren zahlreichen Zwischenhalten, Aktionen und Veranstaltungen auf dem Weg nach Seattle bieten Gelegenheit dazu, bisher nicht international vernetzte Leute anzusprechen und nun auch in den USA ein verläßliches Netzwerk von AktivistInnen aufzubauen.
1 Berichte in PGA Bulletin Nr. 2, <http://www.agp.org/agp/de/PGAInfos/bulletin2b.html>.
2 Siehe Geneva Business Declaration, <http://www.iccwbo.org/home/shared_pages/geneva_business_declaration.asp>.
3 Michael Paulson: Business Leaders Fight Back Against Anti-WTO Forces, in: Seattle Post-Intelligencer, 24. September 1999. <http://www.seattle-pi.com/business/wto24.shtml>.
4 Sam Howe Verhovek: For Seattle, Triumph and Protest. In: New York Times, 13. Oktober 1999. <http://www.corpwatch.org/5-seattle.html>.
5 Geov Parrish: Shutting down Seattle, in: Seattle Weekly, 19.-25. August 1999. <http://www.seattleweekly.com/features/9933/features-parrish.shtml>.
6 Siehe dazu (in englischer Sprache) kritisch <http://www.publiceye.org/pra/tooclose/producerism.html>.
7 Chip Berlet: Beware Right Wing Anti-Globalism. Political Research Associates, October 1999. <http://www.corpwatch.com/5-antiglobal.html>.
8 Dieser und andere Artikel über rechte Einflüsse auf linke Kampagnen finden sich auf <http://www.savanne.ch/right-left.html.en>, meist in englischer Fassung. Im Aufbau befindet sich auch eine deutschsprachige Rechts-Links-Seite.
9 Taguieff, Pierre-André: Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus. In: Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt? Hamburg 1991. pp. 221-268. Siehe auch Schönberger, Klaus: Überlegungen zur Retorsion der Sozialen Frage, AZ-Seminar in Pesina (6.9.-13.9.1997); sowie Terkessidis, Mark: Kulturkampf. Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte. Köln 1995, pp. 67 ff.
10 Stein, Dieter: Es geht um die Freiheit der Völker. Die Euro-Klage: Karl A. Schachtschneider zum juristischen Kampf gegen die Währungsunion, in: Junge Freiheit 4/98 (siehe auch Jungle World 98, Nummern 04, 05 und 14).
11 Zur Widerlegung des Mythos des Staates, der sich mit den MAI-Verhandlungen selbst aushebelt, siehe Peter Decker: Verkehrte Aufregung über das MAI - Die Staaten verschärfen ihre Standortkonkurrenz ... und Linke sorgen sich um das Überleben des Nationalstaates, Junge Welt, 29. April 1998, <http://www.jungewelt.de/1998/04-29/014.htm>. Allgemeiner zur veränderten Rolle eines nach wie vor starken Nationalstaates, Joachim Hirsch: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, ID-Verlag, Berlin 1998.
12 Beispiele finden sich zuhauf, siehe etwa <http://www.truthinmedia.org/>.
13 Ein Potpourri mit teils wahrscheinlich einigermaßen historischen Schilderungen, teils phantasievollen Verschwörungstheorien findet sich auf <http://www.bilderberg.org>. In der Bilderberg-Gruppe soll sich die gesamte Weltprominenz alljährlich treffen, um jeweils über die Zukunft der Menschheit zu entscheiden.
14 Siehe die offiziellen Webseiten des World Economic Forum auf <http://www.weforum.org/>. Neben dem jährlichen Treffen in Davos finden eine Reihe von regionalen Treffen statt, wie über Osteuropa (in Salzburg in Österreich) oder über Südostasien (Beijing und Shanghai).
15 Krebbers, Eric (De Fabel van de illegaal): Goldsmith and his Gaian hierarchy (Goldsmith und seine Gaia-Hierarchie), <http://www.savanne.ch/right-left-materials/gaian-hierarchy.html>. Gaia ist die Personifizierung der Erde in der griechischen Mythologie (Theogonie nach Hesiodos) und dient konservativen Umweltbewegungen als Symbol.
16 Siehe <http://www.agp.org>.
17 Siehe für die Trans-US-Karawane
<http://members.aol.com/pgacaravan/>,
für die kanadische Karawane <http://www.wtocaravan.org/>.