BERICHT
DER INTERNATIONALEN KOMMISSION ZUR BEOBACHTUNG DER MENSCHENRECHTE
CCIODH
 
CHIAPAS-MEXIKO
 
16.2.98 - 28.2.98
 
Der Bericht ist
José Tila Lopez Garcia
gewidmet,
der nach der Überbringung der
Anklagen seines Dorfes
an die
Kommission
in einem Hinterhalt
ermordet wurde
Inhaltsverzeichnis
 
Einleitung:
Menschenrechte in Chiapas – Zum Besuch der Internationalen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte in Mexiko
 
I. BESUCH DER INTERNATIONALEN BEOBACHTERiNNENKOMMISSION IN INDIANISCHEN GEMEINSCHAFTEN UND FLÜCHTLINGSDÖRFERN
 
I.1. Besuch einer Delegation der Internationalen BeobachterInnenKommission im Gebiet von Polho
 
 I.1.1. Zusammenkunft mit dem Autonomen Gemeinderat von Polho
 I.1.2. Besuch der Gemeinschaft Poconichim, Autonome Gemeinde Polho
 I.1.3. Besuch der Gemeinschaft "Las Abejas" in Acteal
 
 I.2. Besuch im Aguascalientes Francisco Gomez (La Garrucha)
 
 I.2.1. Gespräch mit dem Autonomen Gemeinderat von Francisco Gomez
 
I.2.1.1. Gespräch mit dem Koordinator der "GesundheitspromotorInnen" der Gemeinde Francisco Gomez
  I.2.1.2. Gespräch mit Frauen der zapatistischen Unterstützungsbasis
 
 I.2.2. Besuch in der Gemeinschaft La Galeana
 
 I.2.3. Besuch in der Gemeinschaft San Miguel Chiptic
 
 I.3. Besuche in der Zona Norte
 
 I.3.1. Gemeinde Misopa-Chinal, Bezirk Tila
 
I.3.1.1.Interview mit dem Gemeindepräsident von Misopa-Chinal und VetreterInnen des Bezirks Tila
 I.3.1.2. Interview mit einem Ex-Gefangenen, durchgeführt in Misopa-Chinal
I.3.1.3. Auszüge aus verschiedenen Interviews mit Vertriebenen
I.3.1.4. Auszüge aus verschiedenen Interviews mit Frauen
I.3.1.5. Auszüge aus einem Interview mit der Landespolilzei (Seguridad Publica)
I.3.1.6. Auszug aus einem Interview mit Mitgliedern von Paz y Justicia
I.3.1.7. Auszug aus einem Interview mit Angihörigen der Unterstützungsbasis der EZLN
 
I.3.2. Auszüge aus den Interview mit Delegierten aus Dem Gemeindegebiet von Sabanilla
 
 I.3.2.1. Gemeinde El Paraiso
 
I.4. Besuch in der Gemeinde San Quintin
 
I.4.1. Gespräch mit Carlos Gomez Velazquez, Gemeindebeauftragter von San Quintin
 
 
I. ANTWORTEN DER GENERALKOMMANDANTUR DER EZLN AUF EINEN FRAGEBOGEN DER CCIODH
 
 
II. GESPRÄCHE MIT MEXIKANISCHEN INSTANZEN UND ORGANISATIONEN
 
III.1. Interview mit der Parlamentarischen Hilfsinstanz COCOPA
III.2. Interview mit dem Koordinator für den Dialog Emilio Rabasa
III.3. Gespräch mit der Mininsterin für Auswärtige Angelegenheiten, Rosario Green
III.4. Interview mit dem Bundesstaatsanwalt Jorge Madrazo Cuellar
III.5. Interview mit dem Menschenrechtszentrum Frai Bartolomé de las Casas
III.6. Auzüge aus dem Interview mit der lokalen Kommission der CNDH in San Cristobal
III.7. Auszüge aus dem Interview mit Mireille Rocatti, Präsidentin der CNDH
III.8. Interview mit Bischof Samuel Ruiz, Vorsitzender der CONAI
 
 
IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN AUS DEN BEOBACHTERiNNENTÄTIGKEITEN DER INTERNATIONALEN MENSCHENRECHTSKOMMISSION (CCIODH)
 
 IV.1. Empfehlungen
 
 
Anhang:
 
-Kürzelindex
-Erläuterungen
 

MENSCHENRECHTE IN CHIAPAS –
ZUM BESUCH DER INTERNATIONALEN KOMMISSION ZUR BEOBACHTUNG DER MENSCHENRECHTE IN MEXIKO
 
Das Blutbad an 45 indianischen Männern, Frauen und Kindern, das am 22. Dezember 1997 in Acteal, Chiapas, verübt wurde, brachte diesen mexikanischen Bundesstaat erneut auf die Titelseiten der Weltpresse. Das Massaker an Mitgliedern der Zivilbevölkerung erfolgte nur zwei Wochen nach der Vorunterzeichnung eines Sonderabkommens zwischen Mexiko und der Europäischen Union, das eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem mexikanischen Staat und der Gemeinschaft der europäischen Staaten vorsieht. Dieses Abkommen zur wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, das im Laufe dieses Jahres von den nationalen Parlamenten und dem Europaparlament ratifiziert werden muss, ist an die Erfüllung einer sogenannten "Menschenrechtsklausel" gebunden. Diese Klausel bestimmt, dass von der Unterzeichnung des Abkommens abzusehen ist bzw. die in dem Abkommen vorgesehenen Handelserleichterungen und wirtschaftlichen Förderungsmassnahmen einzustellen sind, falls es im Zuständigkeitsbereich einer der beiden unterzeichnenden Seiten zu systematischen Verletzungen der Menschenrechte kommt bzw. der begründete Verdacht von solchen Verletzungen vorliegt.
Die seit Sommer 1997 zunehmenden Nachrichten über Vertreibungen, Verhaftungen und Ermordungen von Mitgliedern der mit den ZapatistInnen sympathisierenden Zivilbevölkerung, die in den Ereignissen von Acteal ihren vorläufigen Höhepunkt fanden, und die Tatsache der unmittelbar bevorstehenden Unterzeichnung des erwähnten Sonderabkommens führte Ende Dezember zur Bildung einer Menschenrechts-Beobachtungskommission der "europäischen Zivilgesellschaft". Diese Initiative ging zwar ursprünglich von Solidaritätsgruppen mit Chiapas aus, sprengte aber in kürzester Zeit diesen Rahmen. So wurde der Aufruf zur Bildung der Kommission von zahlreichen Organisationen, ParlamentarierInnen, Intellektuellen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen aus ganz Europa unterzeichnet (u.a. von Dario Fo, José Saramago und Manuel Vazquez Montalban). An der Kommission selbst nahmen über 200 VertreterInnen von sozialen Organisationen, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Einzelpersonen aus 11 Ländern teil.
 
Arbeitsweise der Beobachterkommission
Der gemeinsame Ansatzpunkt für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Kommission war ihre Sorge um die Wahrung der Menschenrechte und die Erwägung, dass es sich dabei um universale Werte handelt, die keinen nationalen Beschränkungen unterliegen. Ganz im Sinne der Genfer Deklaration der Menschenrechte, die von den meisten Regierungen der Welt, einschliesslich der mexikanischen, unterzeichnet worden ist.
Die Kommission verfolgte in ihrer zweiwöchigen Reise durch Mexiko das Ziel, ein Höchstmass an Informationen zusammenzutragen, Gespräche mit allen am Konflikt beteiligten Seiten zu führen und das Konfliktgebiet zu besuchen, um auf diese Weise einen möglichst umfassenden Bericht über die Problematik des Konflikts in Mexiko und Chiapas zusammenzutragen.
Die Kommission ging bei ihren Untersuchungstätigkeiten von einer breiten Auslegung des Begriffs der Menschenrechte aus. So bildete die Beobachtung der Wahrung der sozialen Rechte (die Menschenrechte der zweiten Generation, wie es in der Fachsprache heisst) einen festen Bestandteil der Tätigkeiten der Kommission. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, wurden verschiedene Arbeitsbereiche mit einem speziellen Augenmerk auf folgende Aspekte bestimmt: Gesundheit, Erziehung, Militarisierung, Situation der Frauen, Achtung der indianischen Sitten und Bräuche und Rechtslage.
 
Gespräche und BeobachterInnentätigkeiten der Kommission
Die Arbeit der Kommission in der Zeit zwischen dem 16. und 28. Februar 1998 lässt sich in drei Hauptbereiche untergliedern:
 
1. Gespräche mit VertreterInnen von Behörden, Parteien und Instanzen.
In diesem Zusammenhang wurden unter anderem Gespräche mit dem Innenminister, der Aussenministerin, dem Bundesstaatsanwalt, mit einer Delegation der parlamentarischen Hilfsinstanz COCOPA und der kirchlichen Vermittlungsinstanz CONAI, mit dem Interimsgouverneur von Chiapas, mit den Landesvorsitzenden der im chiapanekischen Parlament vertretenen Parteien, mit dem Präsidenten des Parlamentes von Chiapas, mit einem Verantwortlichen der Migrationsbehörde und mit RepräsentantInnen der staatlichen Menschenrechtsorganisationen geführt. Von Seiten der Verantwortlichen der Polizei und der Armee wurden keine Gesprächstermine gewährt.
 
2. Besuche im Konfliktgebiet.
Hier wurden die Aussagen der Betroffenen (Flüchtlinge und zapatistische Zivilbevölkerung) entgegengenommen und soweit als möglich Gespräche mit VertreterInnen der "Gegenseite" (lokale Repräsentanten der Staatspartei, Mitglieder der paramilitärischen Gruppen, Verantwortliche von Militär- und Polizeiposten) geführt.
In diesem Zusammenhang wurden unter anderem die Region besucht, in der sich die Gemeinschaft Acteal befindet; die sogenannte Zona Norte, in der eine starke Präsenz von Paramilitärs zu verzeichnen ist; die fünf "Aguascalientes" (Versammlungs- und Koordinationsorte im zapatistischen Einflussgebiet mit Übernachtungsmöglichkeiten, Bibliotheken und Krankenstationen) und verschiedene "autonome Gemeinden" (nach Unterbrechung des Dialogs zwischen der EZLN und der Regierung hat die zapatistische Zivilbevölkerung aufgrund der Nichterfüllung der Abkommen von San Andrés über indigene Rechte und indigene Kultur beschlossen, die Abkommen von San Andrés in die Tat umzusetzen und sich in sogenannten autonomen Dörfern zu organisieren).
 
3. Gespräche und Zusammenkünfte mit verschiedenen zivilen und sozialen Organisationen, die im Konfliktgebiet tätig sind.
Diese Gespräche und Zusammenkünfte wurden mit dem Ziel durchgeführt, einen tieferen Einblick in die Problematik des Konflikts zu bekommen, und bildeten einen wesentlichen Bestandteil des Versuchs, einen Austausch zwischen der europäischen und mexikanischen Zivilgesellschaft zu verwirklichen.
 
Beziehung der BeobachterInnenkommission mit den mexikanischen Behörden und Zwischenfälle während des Aufenthalts der Kommission
Die Mitglieder der Kommission reisten ausgestattet mit einem sogenannten FM-3-Visum in Mexiko ein. Dieses Visum, das normalerweise für die Dauer eines Jahres gewährt wird, wurde den meisten Mitgliedern der Kommission nach Vorverhandlungen mit den entsprechenden mexikanischen Dienststellen und nach Entrichtung einer Gebühr, die je nach Herkunftsland zwischen 120,- und 180,- DM/100.- und 150.-SFr schwankte, ausgestellt. Einige Botschaften und Konsulate verweigerten die Ausstellung dieses Visums. Nach Gesprächen mit dem mexikanischen Aussenministerium erhielten die von dieser Weigerung betroffenen KommissionsteilnehmerInnen das Visum, jedoch gegen einen zusätzlichen Aufpreis in Mexiko-Stadt.
Grundsätzlich lässt sich anmerken, dass der Kontakt mit den mexikanischen Behörden in der Regel von einer ausgesprochenen Freundlichkeit in der Form und einer ausserordentlichen Härte in der Sache gekennzeichnet war. Im allgemeinen drängte sich der Verdacht auf, dass die mexikanischen Behörden versuchten, den Besuch der Kommission für ihre eigenen Interessen zu nutzen.
Dies bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass die Gewährung der Besuchserlaubnis gegenüber den europäischen Institutionen als Zeichen für das unparteiische Verhalten der Regierung im chiapanekischen Konflikt dargestellt wurde. Der Verdacht wird auch dadurch bestärkt, dass die regierungstreuen Medien kurz vor Beginn des Besuchs der Kommission eine bis dato in diesen Ausmassen unbekannte Kampagne gegen die Anwesenheit von AusländerInnen in Chiapas starteten. Die Medienkampagne, die vom staatlichen Fernsehsender TV Azteka angeführt wurde, versuchte auf teilweise unglaublich demagogische Art zu "beweisen", dass die AusländerInnen die unwissenden "Indios" für ihre antimexikanischen Zwecke manipulieren würden und deshalb für die Fortdauer des Konflikts verantwortlich wären. Parallel zu der Kampagne in Rundfunk, Fernsehen und Presse verfügten die dem Innenministerium unterstehenden mexikanischen Migrationsbehörden mehrere Ausweisungen gegen in Chiapas lebende AusländerInnen. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Verhaftung und sofortige Ausweisung des französischen Priesters Michel Chanteau, der seit 30 Jahren im Land gelebt hatte, und des ehemaligen Vorsitzenden der nordamerikanischen Gruppierung "Pastoren für den Frieden", der auf offener Strasse aufgegriffen und ohne jegliche Anhörung in die USA ausgewiesen wurde.
Auch verschiedene TeilnehmerInnen der Kommission waren fremdenfeindlichen Druckmassnahmen ausgesetzt. So wurden Mitglieder der Kommission, die mit der Verabredung der Gesprächstermine beauftragt waren, einer ständigen Beschattung ausgesetzt. Personen, die mit diesen Delegierten gesehen wurden, wurden nach den Absichten und Aufenthaltsorten dieser Delegierten befragt. Obwohl den Behörden die Reiserouten der BeobachterInnen bekannt waren, wurden diese an den zahlreichen Strassensperren der Migrationsbehörde teilweise stundenlangen Überprüfungen ausgesetzt.
Andererseits muss darauf hingewiesen werden, dass die Kommission verschiedene von den paramilitärischen Gruppen kontrollierte Gebiete aufgrund der lebensgefährlichen Lage nicht besuchen konnte und dass der Versuch, die Gegend von Sabanilla im Norden von Chiapas zu bereisen, von einer Gruppe von etwa 200 SympathisantInnen und Mitgliedern der Staatspartei PRI physisch verhindert wurde. Bezeichnend für die gegenwärtige Lage in Chiapas war dabei, dass die Strassensperre, welche die Durchfahrt der Kommission blockierte, sich in unmittelbarer Nähe eines Postens der Landespolizei befand, die dem Geschehen und den Drohgebärden der Blockierer ungerührt bis amüsiert zuschauten.
Es darf hierbei auch nicht unerwähnt bleiben, dass der chiapanekische Bauer José Tila Lopez Garcia, Flüchtling aus der Zona Norte, am 22. Februar 1998 von Mitgliedern der paramilitärischen Gruppe Paz y Justicia ermordet wurde, als er sich auf dem Rückweg von einem Besuch bei der BeobachterInnenkommission befand, um dieser die Anklagen seiner Gemeinschaft über Menschenrechtsverletzungen zu übergeben. Obwohl die Überlebenden des Hinterhalts die Angreifer namentlich benennen konnte, sind bis zum heutigen Zeitpunkt keine Massnahmen gegen die Aggressoren ergriffen worden.
 
 
Zum vorliegenden Bericht
Im Verlauf ihres Aufenthalts in Mexiko hat die Kommission zahlreiche Gespräche mit den verschiedensten Konfliktbeteiligten geführt, über 50 indianische Gemeinschaften besucht und 93 schriftliche Anklagen über Verletzungen der Menschenrechte entgegengenommen. Bei allen Besuchen und Gesprächen wurde ein Protokoll aufgenommen. Am 18. März 1998 wurde der mehr als 150 eng beschriebene Seiten umfassende Bericht der Kommission, der die genannten Protokolle und die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Kommission enthält, in mehreren europäischen Ländern vorgestellt.
 
Die vorliegende Zusammenfassung auf Deutsch stellt eine repräsentative Auswahl der Texte des Berichts dar und gliedert sich wie folgt:
 
I. Besuche in indianischen Gemeinschaften
II. Interview mit der EZLN
III. Gespräche mit mexikanischen Instanzen und Organisationen
IV. Schlussfolgerungen und Empfehlungen der BeobachterInnenkommission
 
Der vollständige Bericht auf Spanisch kann über das Sekretariat der Kommission gegen einen Unkostenbeitrag von 1.000,- Peseten bestellt werden. Anfragen und Bestellungen sind bitte zu richten an: Secretaria de la Comisión Civil de Observación por los Derechos Humanos, C/Cera 1 bis, E-08001 Barcelona, Tel: 00 34 3 442 21 01 Fax: 00 34 3329 08 58, e-mail: ellokal@pangea.org zu richten.
Der Bericht auf Spanisch kann auf der folgenden Homepage abgerufen werden: "http://www.pangea.org/ellokal/CCIODH Die vorliegende Zusammenfassung auf Deutsch auf der Homepage: "http://www.savanne.ch/.
Oder bei Direkte Solidarität mit Chiapas
Postfach 8616
8036 Zürich
  Tel./Fax.: 01/400 45 69
 
 
 
 
 
 
 
 
 
I.
BESUCHE DER INTERNATIONALEN BEOBACHTERiNNENKOMMISSION IN INDIANISCHEN GEMEINSCHAFTEN UND FLÜCHTLINGSDÖRFERNI.1. BESUCH EINER DELEGATION DER INTERNATIONALEN BEOBACHTERiNNENKOMMISSION IM GEBIET VON POLHO. 18.2.1998
Lage des GebietesIn der Nacht nach dem Blutbad von Acteal flohen ca. 3.500 oppositionelle Indigene der Region in Begleitung einer Hilfskarawane nach Chenalhó. Mit diesem Massenexodus ist die Zahl der Flüchtlinge, die sich, über verschiedene Lager verteilt, auf dem Gemeindegebiet der autonomen Gemeinde Chenalhó aufhalten, auf über 10.000 Personen angestiegen. Das Gebiet liegt etwa eine Autostunde von San Cristobal de las Casas entfernt. Polhó ist der Gemeindesitz der autonomen Gemeinde Chenalhó, die aus 42 Gemeinschaften besteht und sich mit den elf anderen autonomen Gemeinden aus dem Gebiet Los Altos koordiniert.
 
Um die Gespräche in den teilweise mehrere Wegstunden voneinander entfernten Flüchtlingslagern durchführen zu können, teilte sich die Kommission in mehrere Gruppen auf, welche die Lager 3, 4, 5, 6, Cocal-2 und die Gemeinschaften Casa de la Luna und Poconichim besuchten.
 
Die Flüchtlinge aus diesen Lagern erklärten übereinstimmend, dass sie es aufgrund der Angst vor Angriffen durch die Paramilitärs nicht wagen würden, die Lager zu verlassen, weshalb sie für alles Lebensnotwendige auf die Hilfe von aussen angewiesen seien. Die Flüchtlinge leben unter freiem Himmel. Als einzigen Schutz vor der Kälte verfügen sie über rudimentäre Hütten aus Plastikplanen und Pappkartons, die mit Zweigen zusammengehalten werden. In jeder dieser "Unterkünfte" schlafen zwischen sechs und 15 Menschen.
 
In den Lagern gibt es praktisch keine sanitären Einrichtungen. Alle Flüchtlinge leiden an Unterernährung, die wiederum das Krankheitsbild der Bevölkerung bestimmt: Krankheiten der Atemwege, Magen-Darm-Krankheiten und Hautparasiten sind in diesem Zusammenhang die verbreitetsten Leiden. Mehrere Kinder sind bereits an Lungenentzündung gestorben.
 
In den Flüchtlingsgemeinschaften gibt es keine Schulen. Viele Flüchtlinge sprechen kein Spanisch.
 
Aussagen der Betroffenen
Der Vertreter des autonomen Gemeinderates erklärte unter anderem: "Es ist zu vielen Toten, verbrannten Häusern und Tausenden von Flüchtlingen gekommen, seitdem die Indigenen der Region beschlossen haben, sich in Autonomen Gemeinden zu organisieren, um die aktive Beteiligung der BürgerInnen zu fördern und für ihre gerechte Forderungen zu kämpfen". Er erklärte ausserdem: "Die Autonomie heisst keine Abtrennung vom Staat, sondern soll die Teilnahme der indianischen BürgerInnen fördern. Die Verfassung sagt, dass alle ein Recht auf die Nutzung von Land und Wäldern haben... Die Autonomie soll nicht die Nation zerstören, sondern alle Indigenen und nicht-Indigenen zusammenbringen, damit es endlich Gleichheit gibt."
 
Die Erklärungen der Flüchtlinge für die Gründe der Flucht aus ihren Heimatgemeinden stimmen weitgehend überein. In ihren Gemeinde sei es ständig zu Tiefflügen von Militärflugzeugen gekommen, häufig seien Soldaten und Mitglieder der Landespolizei unerlaubt in ihre Gemeinschaften eingedrungen und hätten diejenigen bedroht, die sie nach dem Grund für ihre Anwesenheit gefragt hatten. Auch die Klagen über den Raubbau der Wälder und die Einrichtung von Militärcamps auf den Gemeindegebieten sind überall zu hören.
 
Die Flüchtlinge zeigen den Diebstahl bzw. die Zerstörung von Hausrat, Maschinen, Tieren, Ernten und Werkzeugen durch die Paramilitärs an und beschuldigen diese, die Bevölkerung mit Waffengewalt aus den Gemeinschaften zu vertrieben und danach ihre Häuser zerstört und angezündet zu haben. Es soll dabei zu mehren Toten und Verletzten gekommen sein. Die Flüchtlinge bezeichnen die Paramilitärs namentlich und klagen die priistischen Gemeindeverantwortlichen des Kaufs von Waffen an, die in "weissen Krankenwagen gebracht" und danach unter diesen Verantwortlichen verteilt worden seien.
 
Andere Flüchtlinge berichten, dass die paramilitärischen Banden in einigen Gemeinschaften Gebühren zwischen 10.000 und 15.000 Pesos von den BewohnerInnen verlangt hätten und dass diese bei Nichtentrichtung der Gebühr "gefoltert und ermordet wurden". Auch einige Priisten hätten nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, weshalb sie ihre Gemeinschaften gemeinsam mit den Indigenen der zapatistischen Unterstützungsbasis verlassen mussten.
 
Die Flüchtlinge in Poconichim berichteten, dass sie in ihren Heimatgemeinden von priistischen Paramilitärs der Gruppe "Mascara Roja" angegriffen worden seien, denselben "die das Blutbad in Acteal begangen haben". Diese Angriffe, bei denen es jedesmal zu einem Toten gekommen war, sind am 24. Mai und 15. November 1997 erfolgt. Die Flüchtlinge sagen zudem aus, dass sich die Paramilitärs nachts ihren Lagern nähern, ohne dabei von den Militärs gehindert zu werden, obwohl sich 200 Meter entfernt ein Militärcamp befindet und die Soldaten Strassensperren errichtet haben und Rundgänge durch die Gegend unternehmen.
Den Flüchtlingen zufolge bestehen die Paramilitärs aus 50 Personen, die aus den Gemeinschaften Los Chorros, Colonia Puebla und Yashmel stammen und über Schnellfeuergewehre verfügen, mit denen sie die Wohnstätten der Flüchtlinge beschossen, als diese versuchten, dorthin zurückzukehren. Der ZeugInnenaussage einer Frau zufolge kamen eines Nachts Männer in der Uniform der Landespolizei in ihre Hütte, zerrten ihren Mann heraus, zogen ihn nackt aus, töteten ihn mit mehreren Schüssen und schnitten ihm in Anwesenheit seiner Familie die Zunge ab. Sie sei darauf mit ihren sechs Kindern in die Berge geflüchtet und wisse nun nicht mehr, wie sie sie ernähren soll. Sie fügt hinzu, dass diese Männer zudem fünf Sympathisanten der Zapatisten verschleppt, in der Schule eingesperrt und von jedem von ihnen 6.000 Pesos verlangt hätten. Abschliessend erklärte sie: "Während der Durchsuchung wurden auch zwei Frauen von diesen Männern der Landespolizei vergewaltigt."
 
Forderungen der BewohnerInnen und Flüchtlinge in Polhó
Von der Regierung verlangen sie "Gerechtigkeit, die Verhaftung der Aggressoren, der Mörder und derjenigen, die sie befehlen. Rückzug der Armee, damit die Flüchtlinge wieder in ihre Gemeinde zurückkehren können."
Sie fordern von der Regierung eine Entschädigung für die Angehörigen der Opfer von Acteal.
Sie bitten um "direkte Hilfeleistungen der Zivilgesellschaft: Nahrungsmittel, Baumaterial, Kleidung, Arbeitswerkzeug und Wasserrohre."
Sie bitten um "die Anwesenheit von internationalen BeobachterInnen, damit die Abkommen von San Andrés erfüllt und die Menschenrechte im Gebiet respektiert werden."
 
 
I.1.1. ZUSAMMENKUNFT MIT DEM GEMEINDERAT DER AUTONOMEN GEMEINDE POLHO,
18. FEBRUAR 1998
 
Anlässlich des Besuches der BeobachterInnenkommission las der autonome Bürgermeister von Chenalhó folgenden Text vor:
 
1. Die Bundessoldaten beschützen die Paramilitärs aus den Gemeinschaften und zwingen alle priistischen Paramilitärs dazu, Alkohol zu trinken und Marihuana anzupflanzen. In einem der Lager, dem Lager 2, werden Frauen zur Prostitution gezwungen und im Lager Xo`yep wurden die Flüchtlinge mit Hubschraubern vertrieben und Frauen mit Messerstichen verletzt. Im Lager 8 Poconichim haben sie schon einen Bierausschank eingerichtet und am 16. Februar kam ein ganzer Lieferwagen mit Bier an.
 
2. Die Bundessoldaten haben alle Lager eingekreist. Die Bundes- und Landesregierung haben ihnen Waffen und grosse Patronen gegebenen und sie wissen genau, wie viele Paramilitärs es in jeder Gemeinschaft gibt und wer die geistigen Urheber sind: Julio César Ruiz Ferro (ehemaliger Präsident von Chiapas) und sein Sekretär Uriel Jaquin. Wir fordern, dass diese Mörder sofort bestraft werden.
 
3. Heute sind keine Flugzeuge zu sehen, denn sie wissen, dass Sie gekommen sind. Die Regierung achtet genau darauf, dass die Welt nicht merkt, was hier geschieht.
 
4. Die Paramilitärs bereiten einen neuen Angriff auf die Flüchtlinge vor. Die Flüchtlinge wollen in ihre Gemeinschaften zurückkehren, das geht aber nicht, denn die Aggressoren laufen immer noch frei herum. Die Polizei hat bisher nichts gegen sie unternommen. Deshalb werden die Flüchtlinge noch weiter hierbleiben müssen.
 
5. Die Polizei sagt, dass sie erst eingreifen wird, wenn es persönliche ZeugInnenaussagen gibt. Aber die ZeugInnen sind die 45 Toten. Wir erklären den Companeros/as jetzt, dass sie die Lager nicht mehr verlassen sollen, um Aussagen zu machen, weil sie kein Geld haben und ihre ZeugInnenaussagen sowieso nicht beachtet werden.
 
6. Die Menschenrechtskommission der Regierung hat uns gesagt, dass sie die Polizei nicht zwingen kann, gegen die Paramilitärs vorzugehen. Aber das ist eine Lüge. Sie arbeitet mit der Regierung zusammen.
 
7. Die schlechte Regierung versperrt den nationalen und internationalen AusländerInnen (sic!) den Weg zu uns, denn sie sagt, dass sie die zapatistischen Indigenen beraten. Aber die schlechte Regierung täuscht sich, denn wir haben die AusländerInnen als BeobachterInnen in unsere autonome Gemeinde eingeladen, damit sie alle Drohungen und alle Vorgänge bezeugen können.
 
8. Die Mörder sollen zuerst bestraft werden und dann sollen die Abkommen von San Andrés Sacamch'en de los Pobres erfüllt werden, welche die Regierung unterzeichnet hat, und sie sollen sofort die Soldaten aus allen Gemeinschaften und Gemeinden im ganzen Staat abziehen. Dann wird es eine Lösung geben.
 
MIT FREUNDLICHEN GRÜSSEN
Domingo Pérez Paciencia
Präsident des autonomen Gemeinderates von Polhó, Chiapas, Mexiko
 
 
I.1.2. BESUCH IN DER GEMEINSCHAFT POCONICHIM, AUTONOME GEMEINDE POLHO. GESPRÄCH MIT EINEM LOKALEN VERTRETER
 
Nach dem Empfang der Kommission in Polhó begab sich eine Delegation zu Fuss in den Weiler Poconichim.
In der Gemeinschaft leben etwa 600 TzotzilInnen, die aus Yashmel vertrieben wurden. Nach dem Massaker von Acteal haben sie ein Lager auf dem Gelände der Gemeinschaft Poconichim aufgeschlagen. 50 Meter von ihren notdürftigen Behausungen entfernt befindet sich ein Camp der Landespolizei und der Armee mit etwa 200 Soldaten. Die Flüchtlinge leben in 16 Hütten, die jeweils von drei bis vier Familien bewohnt werden.
 
Aussagen der Betroffenen
Sie klagen die paramilitärische Gruppe "Mascara Roja" an, ihre Rückkehr nach Yashmel zu verhindern und ihr gesamtes Eigentum gestohlen zu haben. Sie berichten, dass der letzte Einfall der Paramilitärs am 15. November 1997 stattgefunden habe, wobei diese ihr letzten Besitztümer und ihre Kaffeernte gestohlen hätten. Sie erklären, dass sie seit diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Arbeit auf ihre Kaffeefelder gehen konnten und dass ein PRI-Mitglied sie mit dem Tod bedroht habe, falls sie in ihre Häuser zurückkehren sollten.
 
Ihren Aussagen zufolge umfassen die Paramilitärs etwa 50 mit AK-47-Schnellfeuergewehren bewaffneten Personen aus drei Siedlungen, von denen aus sie Streifzüge gegen die Vertriebenen unternehmen.
 
Den Flüchtlingen zufolge bieten die Bundessoldaten und die Polizei ihnen Medikamente und Nahrungsmittel an, wenn sie als Gegenleistung dafür zapatistische MilizionärInnen und Aufständische denunzieren. Die Frage würde immer wieder lauten: "Wo ist Marcos?" Worauf sie immer erklären würden, dass sie nur Mitglieder der zapatistischen Unterstützungsbasis seien.
 
Unter anderem erklären die ZeugInnen, dass Polizisten einem Flüchtling 50 Pesos gestohlen haben, als dieser am Posten der Landespolizei vorbeikam, dass die Polizisten ihn zwangen, seine Schuhe auszuziehen, dass sie ihn schlugen und ihn unter der Drohung, auf ihn zu schiessen, zwangen, barfüssig wegzulaufen. Die ZeugInnen erklären, dass 50 Pesos sehr viel Geld für sie darstellen.
 
Die ZeugInnen berichten der Kommission, dass ihnen sogar das Recht verweigert würde, ihre Toten zu begraben, denn die Wachposten der PRI drohten damit, auf sie zu schiessen. Sie wüssten nun nicht mehr, wo sie ihre Toten begraben sollten.
 
 
I.1.3. BESUCH BEI DER GEMEINSCHAFT "LAS ABEJAS" IN ACTEAL, 18. FEBRUAR 1998
 
 
Von Polhó aus begab sich einer der Autobusse der Kommission nach Acteal, der Vertriebenen-Gemeinschaft, in der am 22. Dezember 1997 45 Flüchtlinge dem Massaker zum Opfer fielen. Auf der Fahrt in den Ort wurde die Kommission eineinhalb Stunden lang von der Fremdenpolizei festgehalten. Auf dem Weg in die Gemeinschaft kam die Delegation an zwei Militärcamps vorbei, die mit zahlreichen Transportfahrzeugen, Tanks und leichter Artillerie ausgerüstet waren.
 
Acteal liegt an der Landstrasse nach Polhó. Die meisten der 400 EinwohnerInnen sind Vertriebene aus anderen Dörfern der Region, die vor den Paramilitärs in diese Ortschaft geflohen sind. Die Kommission wurde von der Gemeinschaft unter einem improvisierten Plastikdach empfangen, unweit der Kapelle, in der sich die Gemeindemitglieder kurz vor dem Blutbad versammelt hatten.
 
Die Kommission beobachtete folgendes:
1. Als Wohnstätte und Schutz vor Regen und Kälte gibt es lediglich die Kapelle, das Zeltdach und zwei Holzhütten, von denen eine als Gemeinschaftsküche dient.
 
2. Der ausserordentlich knapp bemessene Raum, in dem sich die Flüchtlinge bewegen und den sie, ihnen zufolge, aufgrund der Militärsperren nicht verlassen können. Sie leben quasi in einem Gefängnis unter freiem Himmel.
 
3. Der starke Zusammenhalt dieser Gruppe. Es ist offensichtlich, dass die Gemeinschaft immer noch unter der Wirkung des Massakers vom 22. Dezember lebt. Dieses einschneidende Erlebnis ist ständig präsent. Inmitten des Dorfes haben sie einen Friedhof für die Opfer errichtet: Gräber, 45 brennende Kerzen, das Bild der Jungfrau von Guadalupe, Blumen, etc.
 
4. Nacheinander sprachen der Präsident von "Las Abejas", der verantwortliche Katechist dieser christlichen Gemeinschaft und die Angehörigen der Ermordeten. Ihre AugenzeugInnenberichte werden weiter unten wiedergegeben.
 
5. Der Kommission wurden die Einschusslöcher in den Holzwänden der Kapelle sowie die Schussverletzungen an Beinen und Oberkörper von drei Knaben und einem Mädchen gezeigt.
 
Aussagen der Betroffenen
Der Repräsentant der "Abejas" berichtete, dass die Organisation "Las Abejas" (Die Bienen) im Jahre 1992 in Acteal gegründet wurde, weil die Gemeindeverwaltung falsche Mordanschuldigungen gegen fünf Mitglieder der Gemeinschaft erhoben habe, die darauf zu je zwanzig Jahren Haft verurteilt wurden. Ähnliche Anschuldigungen würden gegen all die Leute ausgesprochen, welche nicht der Regierungspartei PRI angehören. "Las Abejas" sei auch aus dem Grund gegründet worden, um zu verhindern, dass die Leute zu einer PRI-Mitgliedschaft gezwungen werden können. Die Behörden würden nämlich die Leute dazu zwingen, der PRI beizutreten. Das Massaker vom 22. Dezember sei deshalb geschehen, weil sie nicht der PRI angehören.
Er erklärte weiter, das wichtigste Grundprinzip der Organisation "Las Abejas" sei die bedingungslose Ablehnung der Waffengewalt. Sie würden nicht nur den Frieden suchen, sondern sie seien auch radikale PazifistInnen. Deshalb seien sie auch angegriffen wurden, denn die Paramilitärs hätten gewusst, dass sie keine Gegenwehr zu befürchten hatten. Sie stimmten mit den Forderungen der Zapatistas gegen die Unterdrückung, die Armut, für das Recht, auf seinem eigenen Land zu leben, für die Würde etc. überein, aber sie seien nicht mit dem Gebrauch der Waffen einverstanden.
 
Seit über drei Jahren würden die mexikanische Bundesarmee und die Landespolizei "Seguridad Publica" in ihre Dörfer eindringen, ihr Land rauben sowie Häuser und Ernten verbrennen, wobei sie das Ziel verfolge, das soziale Gefüge der Gemeinschaften zu zerstören. Eine solch schlimme Repression hätten sie vorher noch nie erleiden müssen.
 
Das wichtigste sei für sie zur Zeit der Rückzug der Bundesarmee. Denn sie sei es, welche die Leute ermorde, die Häuser verbrenne und die Prostitution fördere. Deshalb würden sie auch die "Hilfe" des Militärs zurückweisen. Seit dem Massaker habe die Bundesarmee begonnen, Sozialdienst zu leisten in Form von Ausgaben von Lebensmittelpaketen, zahnärztlichen Behandlungen, Haareschneiden etc. Er betonte, dass sie all dies nicht wollen. Auch wenn sie Hunger litten, würden sie nicht Essen aus denselben Händen annehmen, die ihre Väter oder ihre Kinder getötet haben. Die Armee solle abziehen. Die Gemeinschaft ist der Ansicht, dass der sogenannte Sozialdienst eine neue Taktik ist, um sie zu betrügen. Sie seien aber nicht bereit, diese Hilfe anzunehmen.
 
Danach las der Repräsentant die Gründungsurkunde der Organisation vor sowie das Kommuniqué mit den Forderungen, welche die Gemeinschaft nach dem Massaker aufgestellt hat.
 
Wie der Sprecher erklärte, handelt es sich um eine katholische Glaubensgemeinschaft, deren Streben nach Frieden, das Ergebnis ihres Glaubens an Gott sei. Wörtlich sagte er:
 
"Unsere Gewaltlosigkeit ist eine Forderung des Evangeliums. Wir hatten beispielsweise gute Gründe, einen Angriff der Paramilitärs zu befürchten, weil diese am Vorabend eine Nachbargemeinschaft anzugreifen versuchten. Deshalb rief uns unser Laienpriester in der Nacht vor dem Massaker zu einer Versammlung in die Kapelle zusammen, um dort zu Gott beten, damit wir nicht angegriffen werden. Denn das Gebet ist unsere wichtigste Waffe. Kurz bevor die Paramilitärs kamen, sagte unser Glaubenssprecher: "Brüder, beten wir zu Gott, damit sie uns nicht töten und es Frieden in den Gemeinschaften und in ganz Chiapas gibt und wir weiter zusammen leben und arbeiten können. Aber wenn sie uns töten sollten, denkt daran, dass das Wichtigste unsere Bereitschaft ist, unser Leben zu opfern - möge Gott dies nicht wollen."
Danach schilderte der Vertreter der Gemeinschaft den Ablauf des Massakers: "Kurz nach diesen Worten sind die Paramilitärs über diese Talmulde gekommen und haben die ersten Schüsse abgegeben. Die Menschen sind dann in wilder Panik hin- und hergerannt. Von halb elf Uhr morgens bis um fünf Uhr abends dauerte das Massaker. Und die Bundesarmee, die hier in der Nähe war und die Schüsse hörte, kam erst, als alles zu Ende war. In einer kleinen Höhle, in der die Menschen Zuflucht gesucht hatten, hatten sie schon die Leichen aufgetürmt. Da kam erst die Bundesarmee und sagte, dass sie käme, um uns vor den Paramilitärs zu schützen."
 
Nach diesen Ausführungen berichteten weitere fünfzehn Personen (sowohl Angehörige der Verwundeten und Ermordeten wie auch Mitglieder der Gemeinschaft, die ebenfalls am Beten waren, als die Paramilitärs auftauchten). Alle Berichte stimmten bezüglich des Ablaufs des Massaker überein: Wie sie zuerst die Gebete beteten, die ihr Sprecher vorsagte, wie dann die Häuser angezündet wurden, wie sie sich verstecken konnten, wie schliesslich das Militär eintraf, nachdem alles vorbei war ...
Einigkeit herrschte auch über die Gründe für das Massaker: Weil sie nicht der PRI angehörten und weil es für die Paramilitärs einfach gewesen sei, da diese wussten, dass sie keine Waffen hätten.
 
Übereinstimmend wurden auch die gegenwärtigen Lebensumstände gewertet:
 
- Sie leben in einem Zustand militärischer Belagerung: Überwachung, Strassensperren, im Schnitt 80 Patrouillen täglich, Tiefflüge über dem Dorf, Belästigungen ...
 
- Sie könnten weder ihre Kaffeernte einbringen noch aussäen, weil ihnen das Verlassen des Geländes untersagt sei.
 
- Sie leben von der internationalen Hilfe und Caritas, die ihnen Reis und Bohnen geben. Dies könne jedoch auf die Dauer nicht so weitergehen. Ausserdem behindere die Bundesarmee die Ankunft von Hilfsgütern (A.d.Ü: So wurde z. Bsp. das Internationale Rote Kreuz IKRK im Februar 98 gezwungen, seine Arbeit für 20.000 Menschen in Chiapas einzustellen).
 
- Es gebe weitere Flüchtlingscamps, die ebenfalls von der Armee belagert würden. Die RegierungsanhängerInnen hätten hingegen Bewegungsfreiheit und würden Hilfsgüter und Waffen von der Armee bekommen.
 
- Die den Flüchtlingen namentlich bekannten Mörder seien weiterhin auf freiem Fuss. Zu Beginn wurden sie verhaftet, aber darauf wieder freigelassen, und bewegten sich nun wieder frei in der Gegend.
 
- Aufgrunddessen herrsche die allgemeine Ansicht, dass es keine Gerechtigkeit gibt.
 
- Das allseitige Gefühl des Terrors, der Angst, der Panik, der Verlassenheit und gleichzeitig der Dank an die Menschenrechts-Kommission, die es ermöglicht, "der Welt die Wahrheit über unsere Lage erklären zu können".
 
- Aus all diesen Gründen wird auch der sogenannte "Sozialdienst" der Armee abgelehnt.
 
 
Feststellungen
1. Obwohl es natürlich nicht die Aufgabe der Kommission in Acteal war, Untersuchungen über das Massaker anzustellen (dafür gibt es schon andere Kommissionen und zahlreiche Unterlagen), ist trotzdem Eines sicher: Die absolute Übereinstimmung der AugenzeugInnen bei der Beschreibung der Umstände des Angriffs. Dies ist ohne Zweifel von grossem Gewicht.
 
2. Die aktuelle Situation ist die einer militärischen Belagerung, eines Gefängnisses unter freiem Himmel. Es gab zwar während des Besuchs keine Patrouillen, keine Strassensperren, keine Überflüge oder andere Behinderungen durch die Bundesarmee bzw. durch Paramilitärs, aber die übereinstimmenden Zeugnisse lassen kaum Raum für einen Zweifel: Sie konnten weder ernten noch säen, sie leiden Hunger.
 
3. Die sanitären, hygienischen, schulischen Bedingungen, die ungenügende Ernährung, die Enge des verfügbaren Raums, die Kälte und das Leben unter freiem Himmel, das der Gemeinschaft selbst noch nach dem Massaker aufgezwungen wird, sind absolut menschenunwürdig und von einer unglaublichen Grausamkeit und strukturellen Gewalt, welche die Leute an den Rand der Hoffnungslosigkeit treibt. In diesem Zusammenhang erscheint es logisch, dass die Ablehnung der Hilfe, welche die Bundesarmee anbietet, die letzte Möglichkeit für den kollektiven Willen darstellt, die eigene Würde im Angesicht der Mörder nicht zu verlieren.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
I.2. BESUCH IM AGUASCALIENTES FRANCISCO GOMEZ (LA GARRUCHA)
 
Eine Delegation der Kommission hielt sich vom 19. bis 21. Februar in der Ortschaft La Garrucha, dem Gemeindesitz der Autonomen Gemeinde Francisco Gomez, auf. Die Ortschaft liegt im offiziellen Gemeindegebiet von Ocosingo.
 
 
I.2.1. GESPRÄCHE MIT DEM AUTONOMEN GEMEINDERAT VON FRANCISCO GOMEZ
 
Die GesprächspartnerInnen erläuterten den BesucherInnen die Bedeutung, die das Konzept der indigenen Autonomie für sie hat. In diesem Zusammenhang erklärten sie, dass die Selbstregierung der autonomen Gemeinden keinen Abtrennung vom mexikanischen Staat bedeute und dass sie sich als ChiapanekInnen und MexikanerInnen begreifen würden.
 
Den Äusserungen der GesprächspartnerInnen zufolge basieren die autonomen Gemeinderegierungen auf den Sitten und Bräuchen der jeweiligen indianischen Gemeinschaften. Die Gemeindeverantwortlichen würden in einer Vollversammlung, an der Männer, Frauen und Kinder teilnehmen, demokratisch gewählt werden. Die aus diesen Wahlen hervorgegangenen Autoritäten seien für die gemeinschaftliche Verwaltung der natürlichen Ressourcen der Gemeinschaften verantwortlich, die sich in einer autonomen Gemeinde zusammengeschlossen haben. Sie würden sich vor allem um die gerechte Verteilung der Lebensmittel (vor allem Mais und schwarze Bohnen) und des Landes kümmern. Insgesamt seien 49 Gemeinschaften in dieser autonomen Gemeinde zusammengeschlossen.
 
Jede einzelne Gemeinschaft entscheide frei darüber, wie das Land verteilt und bestellt werden soll, wobei stets das Konzept des Gemeinschaftseigentums bewahrt bleibe, so wie es bei ihnen Sitte sei.
 
Die BewohnerInnen klagen darüber, dass sie weder über Erdöl noch Strom verfügen, obwohl zum Beispiel der Strom in ihrem Land erzeugt werden würde. Dies sei darauf zurückzuführen, dass der Abbau der Ressourcen in den Händen von Leuten mit hoher Kaufkraft läge. Die Regierung baue das Erdöl und das Holz ab, wobei sie den Wald und den Lebensraum der ursprünglichen EinwohnerInnen zerstören würde, deshalb kämpften sie dafür, ihr Ökosystem als ein Erbe für die Zukunft zu bewahren und fordern das Recht auf die Selbstverwaltung dieser natürlichen Ressourcen.
 
Bezüglich der Bildungssituation klagen die GesprächspartnerInnen darüber, dass es in den meisten indigenen Gemeinschaften seit 1993 keine LehrerInnen mehr gebe - wie auch in dieser Gemeinschaft, in der es zwar eine Schule, aber, wie die BewohnerInnen erklärten, seit 1994 keineN LehrerIn mehr gibt. Die von der Regierung eingesetzten LehrerInnen würden nicht die Bräuche achten und seien nicht mit einer Erziehung in der indianischen Muttersprache einverstanden. Deshalb fordert die Gemeinschaft die Ausbildung von Gemeindemitgliedern zu LehrerInnen.
 
Die Folgen der Militarisierung stellten einen weiteren Gesprächspunkt dar. Das Lager der mexikanischen Bundesarmee befindet sich einen Kilometer von der Gemeinschaft und drei bis vier Kilometer von den Feldern entfernt. Dieser Umstand habe zu Unruhe unter den BewohnerInnen geführt, zumal Männer, Frauen und Kinder bei ihren täglichen Arbeiten von den Soldaten verfolgt und belästigt würden. Die GesprächspartnerInnen klagten auch über die Zerstörung ihres Ökosystems durch die Soldaten: Sie fällen Holz, um Schützengräben zu bauen, zerstören Felder und heben an zahlreichen Orten das Gelände aus."
 
Gleichzeitig komme es täglich zu Patrouillenfahrten zu Land (Lastwagen und Panzerfahrzeuge) und Luft (Hubschrauber und Flugzeuge). Auf Grund der Anwesenheit der Kommission habe die Regierung jedoch in diesen Tagen den Rückzug der Militärs befohlen.
Nachdem die Kommission die Ortschaft verlassen hatte, erfuhr sie davon, dass die Patrouillen wieder aufgenommen und die Armee erneut in Felder der Gemeinschaft eingedrungen waren.
 
Die Gemeinschaft verlangte den Rückzug der Armee und zeigte die Zunahme der Soldaten in den Gemeinschaften an, wobei erklärt wurde: "Die Regierung lügt, wenn sie sagt, dass sie den Frieden will und nicht die Gewalt." Die Tatsachen würden beweisen, dass die Regierung auf Zeitgewinn setze, um sie wie am 9. Februar 1995 zu hintergehen.
Die Strategie der Regierung bestände darin, priistische Gemeinschaften wie beispielsweise San Quintin mit allem Lebenswichtigen zu unterstützen: Wohnraum, ärztliche Versorgung, Erziehung... Durch diese Form der Mittelzuweisung würde versucht werden, die anderen Gemeinschaften auf die Seite der Regierung zu ziehen. "Wir aus Francisco Gómez verweigern die humanitäre Hilfe der Regierung und der Armee, denn wir kämpfen nicht für einen persönlichen Nutzen, sondern für einen gemeinschaftlichen." Gleichzeitig wird berichtet, dass die mexikanische Regierung den Transport von internationaler Hilfe zugunsten der zapatistischen Unterstützungsbasis behindere, was bei den priistischen Gemeinschaften nicht der Fall sei.
 
Anschliessend wird über die Präsenz von paramilitärischen Gruppen wie "Paz y Justicia", "Chinchulines" und "M.I.R.A." informiert. Die letztere sei in der Gegend von Ocosingo präsent und bereite sich auf Operationen vor. Sie besitze Waffen und Geld und werde von der mexikanischen Armee ausgebildet, die wiederum eine Sonderausbildung durch Armeen anderer Länder erhalte.
 
Zum Abschluss des Gespräches drücken die GesprächspartnerInnen ihr Interesse daran aus, dass die Kommission offen und objektiv über ihre Forderungen und Klagen berichtet.
 
 
I.2.1.1. GESPRÄCH MIT DEM KOORDINATOR DER "GESUNDHEITSPROMOTORiNNEN" DER GEMEINDE FRANCISCO GOMEZ
 
Am ersten Tag des Besuches sprach eine Delegation der Kommission mit dem Koordinator der "GesundheitspromotorInnen" über die Gesundheitslage und die medizinische Versorgung in der Gemeinde. Die "Arztpraxis" von Francisco Gomez besteht aus drei Räumen. Der erste dient als Apotheke, der zweite ist mit einem Bett ohne Matratze ausgestattet und dient als Sprechzimmer und der dritte fungiert als Wartesaal. Die Praxis wurde 1996 eingerichtet und betreut die BewohnerInnen von 60 Gemeinschaften. Das Gesundheitsteam besteht aus dem "Gesundheitspomotor" und fünf weiteren BewohnerInnen der Gemeinschaft.
 
Der Promotor informiert darüber, dass die prekäre Gesundheitslage der Bevölkerung "das Ergebnis der klimatischen Bedingungen und der durch den Konflikt hervorgerufen Lebensbedingungen ist, unter denen die Mitglieder der Gemeinschaft zur Zeit leiden". Die häufigsten Krankheiten seien: Durchfall, Parasitosis, Askariasis, Magen-Darm-Entzündungen, Entzündungen der Atemwege, Tuberkulose, Infektionen der Harnwege, Migräne (vor allem bei Frauen), Asthma (Kinder).
 
Die Unterernährung sei besonders bei Kindern ausserordentlich hoch. Dies sei sowohl auf den Nahrungsmangel als auch auf den geringen Nährwert der Nahrung zurückzuführen. Die gegenwärtige Konfliktsituation verschärfe die Lebensmittelknappheit.
 
Die medizinische Betreuungs- und Behandlunsgkapazität werde sowohl durch den Mangel an Fachpersonal als auch an Mitteln beschränkt, weshalb die Patienten oft an andere Stellen, wie an das mexikanische Rote Kreuz, weitergeleitet werden müssen. Dieser Organismus würde jedoch als Behandlungsvoraussetzung eine detaillierte ärztliche Diagnose vom Patienten verlangen, die dieser in der Regel nicht vorweisen könne, worauf sich dann diese Organisation jegliche Verantwortung gegenüber dem Patienten ablehne.
 
Da die Gemeinschaft nicht über einen eigenen Krankenwagen verfügt, ist der Transport von Kranken, die nicht im Gesundheitszentrum der Gemeinschaft behandelt werden können, ausserordentlich teuer und manchmal nicht durchzuführen. Der Gesprächspartner weist in diesem Zusammenhang erneut auf die extreme Mittelknappheit und auf den Mangel an wichtigen Medikamenten hin und bittet die unabhängigen nationalen und internationalen Organisationen um humanitäre Hilfe, und um Spenden von Antibiotika, Antitussiva, Antiparasitenmitteln, Entzündungshemmern, schmerzstillenden Mitteln und Vitaminen.
 
In der Praxis war eine Arzneispende des mexikanischen Roten Kreuzes zu sehen, die Medikamente enthielt, deren Verfallsdatum abgelaufen war.
 
Verschiedenen Bewohner und Bewohnerinnen der Gemeinschaft bieten eine medizinische Betreuung unter Nutzung ihrer Kenntnisse über natürliche Heilverfahren an, die in einem von der Gemeinschaft verfassten Handbuch zusammengestellt worden sind. Dieses medizinische Wissen kann jedoch aus Geldmangel nicht unter den Gemeinschaften verbreitet werden und läuft dem Koordinator zufolge deshalb Gefahr, in Vergessenheit zu geraten.
 
Einige Frauen haben mit der Einrichtung eines Zuchtgartens mit medizinischen Heilkräutern begonnen, den sie aber bedingt durch die Militärpräsenz nicht pflegen können.
 
Auch seien beim Gesundheitsministerium in Tuxtla Gutiérrez Anträge zur Schaffung von Fortbildungsworkshops eingereicht worden. Diesen Anträgen sei jedoch nicht stattgegeben worden, da das Ministerium von den TeilnehmerInnen eine Grundschulausbildung verlange.
 
 
I.2.1.2. GESPRÄCH MIT FRAUEN DER ZAPATISTISCHEN UNTERSTÜTZUNGSBASIS
 
Das Gespräch fand am 21. Februar 1998 statt und drehte sich vor allem um die Auswirkungen der Militärpräsenz auf das Alltagsleben der Frauen sowie um ihre Tätigkeiten und ihre Teilnahme am Gemeinschaftsleben.
 
Die interviewten Frauen klagen über die Existenz von Strassenblockaden, an denen sie nach ihren Tätigkeiten und dem Inhalt ihrer Taschen gefragt würden. Bedingt durch ihre fehlenden Spanischkenntnisse würden sie sich dadurch eingeschüchtert fühlen. Sie äussern auch ihre Ängste vor den ständigen Tiefflügen der Militärhubschrauber und -flugzeuge und vor den Militärpatrouillen in den Bergen. Ausserdem würden die Militärs ohne Erlaubnis in ihre Gemeinschaften eindringen. Die Soldaten hätten sich während des Aufenthalts der Kommission zurückgezogen. Es stimme nicht, dass die Soldaten ihnen humanitäre Hilfe zukommen lassen würden.
 
Infolge der Militärpräsenz trauen sie sich nicht mehr, allein aufs Feld zu gehen, Feuerholz zu sammeln bzw. die Gemeinschaften zu verlassen, da sie Angst haben, belästigt und angegriffen zu werden. Sie erläutern, dass diese Unsicherheit und Angst sich besonders stark bei den Kindern äussere.
 
Sie klagen über die durch die Soldaten verursachte Prostitution in der Gegend. Die Prostituierten und Soldaten würden sich in den Bächen und Quellen baden, aus denen die BewohnerInnen das Trinkwasser schöpfen. Die Prostituierten kämen zwar hauptsächlich aus Ocosingo und Altamirano, aber es gebe auch schon die ersten Fälle von Prostitution unter Frauen aus den umliegenden Gemeinschaften.
 
Aktivitäten der Frauengruppe
Die Frauen erklären, dass sie sich zu wöchentlichen Versammlungen treffen, in denen sie über mögliche Reaktionen auf die Militarisierung, über die Überwindung ihrer Angst und die Möglichkeiten sprechen, ihre Kinder zu schützen. Sie haben vor, eine Frauenkooperative zum Weiterverkauf von Erzeugnissen einzurichten. Auch habe sich eine Gruppe von Näherinnen gebildet, die Kleider herstellen.
 
Schulbildung
Seit 94 gebe es keine DorfschullehrerInnen mehr, vorher seien sie ein- bis zweimal alle zwei Wochen gekommen. Die Frauen äusserten ihren Unwillen über diese Unregelmässigkeit und die Bildungsinhalte und -formen. Sie erklären, dass sie darüber diskutieren, wie das Schulproblem zu lösen wäre. Viele Frauen äussern den Willen, Lesen und Schreiben zu lernen.
 
Teilnahme der Frauen am Leben der Gemeinschaft und an den Dorfentscheidungen
Die Frauen äussern ihren Willen zur Teilnahme an den Gemeinschaftsentscheidungen und erklären, dass sie ihre Forderungen einbringen können. Sie haben sich als Frauen organisiert, um über ihre Situation zu sprechen. Unter den Dorfautoritäten gebe es bisher aber noch keine Frauen.
 
 
 
Bitten an die Kommission
Sie werten die Anwesenheit von Fremden als positiv, da es dadurch keine Militärpatrouillen gebe. Sie bitten die Kommission darum, über ihre Situation zu berichten und auch darüber, wie sich die Regierung in allen anderen indianischen Gemeinschaften verhält.
 
Von der Regierung verlangen sie eine gute Gesundheitsversorgung und Schulbildung für die ganze Nation und nicht nur für einige wenige; den Rückzug der Soldaten in die Kasernen; die Erfüllung der Abkommen von San Andrés, speziell was die Teilnahme der Frauen angeht.
 
 
 
I.2.2. BESUCH IN DER GEMEINSCHAFT LA GALEANA
 
Das Gespräch fand am 20. Februar 1998 zwischen einer Delegation der Kommission und den örtlichen Verantwortlichen in der zur Autonomen Gemeinde Francisco Gomez gehörenden Gemeinschaft statt. Die Kommission wurde bei ihrer Ankunft von der ganzen Gemeinschaft empfangen und hielt sich zwei Stunden im Ort auf.
 
Situation der Gemeinschaft
Die Themen, die den EinwohnerInnen die grössten Sorgen bereiteten, hatten mit der Zunahme der Soldaten, den Tiefflügen der Militärflugzeuge und der ständigen Drohung eines Einmarschs der Bundesarmee zu tun, sowie damit, dass diese Umstände bei ihnen eine grosse Unsicherheit und eine Störung des Alltagslebens zur Folge haben.
 
Die Vertreter erklärten, dass ihr Dorf schon im Februar 1995 im Verlauf eines Einfalls der Bundesarmee bombardiert wurde.
Sie äusserten ihre Forderungen im Gesundheits- und Bildungsbereich. Den Beobachtungen der Kommission zufolge gibt es weder eine Schule noch medizinische Einrichtungen.
Sie drückten ihr Misstrauen und ihre Ablehnung jeglicher Hilfeleistung von Seiten der Regierung aus, denn diese Hilfen "haben keinen anderen Zweck, als die Bevölkerung zu spalten und gegeneinander aufzuwiegeln und tragen nichts zur Lösung des Konflikts bei."
Sie wiesen auf ihre Armut und ihre elenden Lebensbedingungen hin. In diesem Zusammenhang erklärten sie, dass die Weigerung der Regierung, die Abkommen von San Andrés zu erfüllen, einer Weigerung der Regierung zu einer friedlichen Lösung des Konflikts gleichkomme.
 
Die Gemeindesprecher äusserten zudem ihre Besorgnis über die Zunahme der paramilitärischen Gruppen in der Gegend und im ganzen Bundesstaat.
 
Abschliessend betonen sie erneut die Notwendigkeit, dass die internationale Gemeinschaft die Wahrheit über die Lage in Chiapas erfährt, und drücken ihren Wunsch aus, in Frieden leben zu können.
 
 
Angezeigte Vorfälle
Die BewohnerInnen erklären, dass am 9. Januar 1998, gegen 10 Uhr 30, etwa 100 Bundessoldaten versucht hätten, in die Ortschaft La Galeana einzudringen. Die Soldaten seien den Berg hochgestiegen und hätten etwa 500 Meter von der Gemeinschaft entfernt angefangen, das Zuckerrohr von den Feldern abzuschneiden. Daraufhin seien Frauen und Kinder der Gemeinschaft ihnen entgegengegangen. Viel Frauen hätten ihre Kinder auf dem Rücken getragen. Als sich die Soldaten weiter dem Dorf näherten, hätten Frauen und Kinder sie eingekreist und aufgefordert, das Gemeindegebiet zu verlassen. Die Soldaten seien danach etwas zurückgewichen, hätten die BewohnerInnen aber gleichzeitig mit ihren Waffen bedroht und sie beschuldigt, Mitglieder der EZLN zu sein. Die Antwort der BewohnerInnen darauf habe gelautet: "Lasst uns in Ruhe, wir sind nur arme Bauern".
 
Im Verlauf des heftigen Wortwechsels habe ein Soldat einen Schuss abgegeben, der aber niemand verletzt habe. Die Frauen hätten von den Soldaten eine Entschädigung für das abgeschnittene Zuckerrohr verlangt. Auch wurde gesehen, dass die Soldaten eine Granate im Zuckerrohrfeld versteckten, die aber bis heute noch nicht gefunden worden sei.
 
Die BewohnerInnen erklärten, dass die Soldaten Marihuanasamen mit sich führten. Es wird vermutet, dass sie ausgestreut werden sollten, um die DorfbewohnerInnen später des Drogenanbaus zu beschuldigen.
 
Unter den fortwährenden Rufen, dass sie wieder gehen sollten, hätten sich die Soldaten bis zur Landstrasse nach Ocosingo zurückgezogen. Dort formierten sie sich dann zu einem kompakten Block und versperrten die Strasse. Als die DorfbewohnerInnen sahen, dass die Soldaten nicht abzogen, folgten sie ihnen unter lautem Rufen. Gegen 16 Uhr seien dann zwei Militärlastwagen gekommen und hätten die Soldaten in ihr Lager in der Nähe der Ortschaft La Garrucha zurückgebracht.
 
Die Gemeinschaftsverteter erklären abschliessend, dass dies der dritte Versuch eines Einmarsches in das Dorf gewesen sei und bitten die Zivilgesellschaft um Hilfe.
 
 
 
I.2.3. BESUCH IN DER GEMEINSCHAFT SAN MIGUEL CHIPTIC
 
Die Gemeinschaft San Miguel Chiptic wurde am 20. Februar von fünf VertreterInnen der Kommission besucht. Es wurden Gespräche mit dem Vertreter der Gemeinschaft und dem Gesundheitsbeauftragen geführt.
 
In San Miguel Chiptic leben ca. 500 Personen. In der Gemeinschaft gibt es eine Schule mit einem Lehrer der Regierung und einen Gesundheitsbeauftragten, welcher im Spital San Carlos in Altamirano ausgebildet wurde. Er schilderte der Kommission Gesundheits- und Ernährungsprobleme.
 
Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und der Kälte während der Regenzeit würden in dieser Jahreszeit die Zahl der Krankheiten zunehmen, dies gelte vor allem für die Grippe. Infolge fehlender Hygiene und Unterernährung, an der über 80% der Kinder leiden, seien diese sehr viel anfälliger für Krankheiten. Um diesen Problemen entgegenzuwirken, würden die Kinder regelmässig gewogen, und man biete Workshops zur Hygiene an. Die schlechte Bauweise der Häuser, in denen die BewohnerInnen Luftzug und der Kälte ausgesetzt seien, erhöhe das Krankheitsrisiko zusätzlich.
 
Aussagen der Betroffenen
Die BewohnerInnen der Gemeinschaft beschrieben der Kommission gegenüber folgende Vorfälle:
 
Am 1. Januar 1998 sei das Militär mit drei Lastwagen in San Miguel Chiptic eingedrungen. Alle BewohnerInnen hätten Angst gehabt, da die Soldaten bewaffnet waren. Nach Aussage des Verantwortlichen der Gemeinschaft betraten die Soldaten zwei Häuser, einerseits das des Gemeinschaft-Kommissariates und anderseits das Haus des Geldverwalters der Gemeinschaft, wo 20.000 pesos /ca. 3400 Fr./ 4000 DM (von der Kooperative) und 19.000 pesos (der Gemeinschaft) geraubt wurden.
 
Danach hätten sich die Soldaten vor der Kirche gesammelt. Die Frauen hätten sich schnell organisiert, um die Soldaten am Eindringen in andere Häuser zu hindern.
 
Die Betroffenen erklärten, dass mit dem Militär ein Regierungsvertreter aus Altamirano (der wiedererkannt wurde, da einige BewohnerInnen in seinem Büro gewesen waren) sowie vier Vermummte in die Gemeinschaft kamen. Die Frauen hätten versucht, ihnen die Kapuzen abzunehmen, sie seien aber vom Militär daran gehindert worden.
 
Die mit Stöcken bewaffneten Frauen vertrieben die Soldaten und folgten ihnen bis Nueva Esperanza, wo sie auf viele andere Militärs trafen. In Nueva Esperanza wollten die Soldaten die Frauen in der Kirche einsperren, die zuvor mit Benzin bespritzt worden sei. Die Frauen hätten sich dagegen gewehrt und wären wenig später in ihre Gemeinschaft zurückgekehrt. Später hätten sich die Frauen nochmals nach Nueva Esperanza begeben, um das Militär endgültig zu vertreiben. Nach dreitägiger Besetzung habe das Militär dann Nueva Esperanza um drei Uhr morgens verlassen.
 
Der Verantwortliche der Gemeinschaft wies darauf hin, dass die Frauen nicht nur vor den Militärs Angst gehabt hätten, sondern auch vor der Landespolizei, da sie Haftbefehle gegen verschiedene Männer der Gemeinschaft hatten.
 
Bitten an die Kommission
Der Vertreter von San Miguel Chiptic bat die Kommission um die Anwesenheit von internationalen BeobachterInnen in der Gemeinschaft, um sie vor weiteren Übergriffen des Militärs zu schützen.
 
 
 
I.3. BESUCHE IN DER ZONA NORTE
 
Gegenwärtig ist die Zona Norte die konfliktreichste und am meisten von Gewalt heimgesuchte Region von Chiapas. Viele Gemeinschaften sind in zwei gegnerische Lager gespalten: einerseits Mitglieder der zapatistischen Unterstützungsbasis und der Oppositionspartei PRD und andererseits Mitglieder der Staatspartei PRI. Wie die Kommission feststellen konnte, ist der Zugang zu diesen Gemeinden schwierig und riskant.
Es ist hervorzuheben, dass das allgemeine Klima in den Dörfern durch Panik, Terror und Abschottung geprägt ist.
Der grösste Teil der Gespräche wurden mit SymapthisantInnen der EZLN abgehalten. Trotz verschiedener Versuche waren die Angehörigen von "Paz y Justicia" in den allermeisten Fällen nicht zu einem Gespräch bereit. Die wenigen mit ihnen geführten Interviews waren sehr kurz und fanden in einem angespannten Klima statt.
Es folgt eine repräsentative Auswahl der zahlreichen Gespräche.
 
I.3.1. GEMEINDE MISOPA-CHINAL
 
In Misopa-Chinal sprach die Kommission mit ca. 20 VertreterInnen aus verschiedenen Flüchtlingslagern und Gemeinden. Die VertreterInnen mussten für die Gespräche mit der Kommission teilweise bis zu zehnstündige Fussmärsche absolvieren, weil sie die zahlreichen Strassensperren der Bundesarmee, Landespolizei und der Paramilitärs weitläufig umgehen mussten.
 
Bei der Rückkehr von diesen Interviews ist einer der Repräsentanten, José Tila, in einen Hinterhalt geraten und wurde dabei ermordet. Sein Vater konnte fliehen und überbrachte der Kommission die erschreckende Nachricht. Er konnte die Mörder identifizieren und sagte aus, dass es sich bei allen um Mitglieder von "Paz y Justicia" gehandelt habe. Er nannte der Kommission die Namen der Verantwortlichen und die Herkunftsorte derselben.
 
I.3.1.1. INTERVIEW MIT DEM GEMEINDEPRÄSIDENTEN VON MISOPA-CHINAL UND MIT DEN VERTRETERiNNEN DES BEZIRKS TILA
 
Der Präsident klagt über die Präsenz der Landespolizei, die zusammen mit Mitgliedern von Paz y Justicia operieren würde. Er erklärt, dass sie viele Fotos machen und allerlei Fragen stellen würden. Er lebe in konstanter Angst, weil er der Repräsentant eines Dorfes sei, das mit der EZLN sympathisiere. Dies sei Grund genug, ihn unter fadenscheinigen Vorwänden anzuklagen und ihn deswegen hinter Gitter zu bringen.
 
Er erwähnt auch, dass in seiner Gemeinde 25 Mitglieder von "Paz y Justicia" leben. Gemäss seinen Aussagen gehören weniger als 10 Prozent der Bevölkerung dieser Organisation an. Alle anderen würden die EZLN unterstützen. Er hält des weiteren fest, dass kein Mitglied von "Paz y Justicia" aus seiner Gemeinde vertrieben wurde. Sie würden ihr Land bestellen und bekämen zudem Geld von der Regierung. Die BewohnerInnen der EZLN respektieren diese Tatsache, da sie keinen Konflikt unter Indigenen wollen. Er bedauerte jedoch, dass bei umgekehrten Verhältnissen (mehr Leute von "Paz y Justicia" und weniger von der EZLN) die letzteren dauernd angegriffen und/oder aus ihrem Dorf vertrieben würden und dabei all ihren Besitz verlören.
 
Als weiteres Problem spricht er das Fehlen von ÄrztInnen an, die durch die Bedrohungen von "Paz y Justicia" Angst haben, die zapatistischen Gemeinden zu besuchen. Die zapatistischen BewohnerInnen erhalten dadurch keine medizinische Betreuung, weshalb viele Leute an heilbaren Krankheiten sterben.
 
Er erklärt, dass es ihnen wegen der zahlreichen Militärposten nicht möglich sei, sich frei in der Gegend zu bewegen. Seinen Aussagen zufolge beteiligen sich Mitglieder von "Paz y Justicia" an diesen Posten und beschuldigen ihre OpponentInnen als mutmassliche Schuldige von Rauben und Entführungen. Gemäss dem Bürgermeister liegen gegen etwa 1.500 Personen der Zona Norte Haftbefehle vor. Die meisten seien des Waffen- und Drogenschmuggels angeklagt. Mit diesen Anklagen rechtfertige das Militär dann seine Kontrollposten.
 
 
I.3.1.2. INTERVIEW MIT EINEM EX-GEFANGENEN, DURCHGEFÜHRT IN MISOPA-CHINAL
 
Der ehemalige Gefangene erzählt, dass eines Tages 15 bewaffnete Männer mit 3 Helikoptern gekommen und in sein Haus eingedrungen seien, ihn nach Tuxtla mitgenommen und von da aus ins Gefängnis Cerro Hueco gebracht hätten.
 
Zusammen mit ihm seien weitere 8 Personen verhaftet worden, ohne dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt über die Anklage gegen sie und ihre Rechte informiert worden wären. Letztendlich seien sie nach Zahlung einer Kaution von je 3.655 Pesos (ca. 730 DM/ 610 SFr) freigelassen worden. Sie waren der Entführung eines Mitglieds von "Paz y Justicia" angeklagt gewesen.
 
Er legt dar, dass es in seinem Dorf gegen 23 Personen Haftbefehle gebe, die aufgrund Anklagen von Mitgliedern von "Paz y Justicia" ausgestellt worden seien, was reiche, um eine Verhaftung der Person herbeizuführen. Von "Paz y Justicia" gäbe es trotz der zahlreichen Anzeigen gegen sie kein einziges verhaftetes Mitglied. Die einzigen Gefangenen einer paramilitärischen Gruppe seien jene, die nach dem Massaker von Acteal verhaftet wurden. Der Grund dafür sei der hohe Bekanntheitsgrad des Vorfalls.
 
Er erklärt weiter, dass es innerhalb von "Paz y Justicia" viele DeserteurInnen gebe, die mit der Gewalt nicht mehr einverstanden seien. Sie würden deshalb von ihrer eigenen Organisation bedroht, was bis zum Mord führen könne.
Diese Morde würden jedoch den SympathisantInnen der EZLN angehängt.
 
 
 
I.3.1.3. AUSZÜGE AUS VERSCHIEDENEN INTERVIEWS MIT VERTRIEBENEN
 
Die Gespräche fanden am 21. Februar in Misopa-Chinal, Bezirk Tila, statt
 
1. Der Vertriebene Domingo Ramirez López erklärt, dass er, seine Frau Magdalena López Martínez und ihre fünf Kinder, sein Schwager, seine Schwägerin Guadalupe Lopez Martínez und ihre beiden Söhne, in die Berge flüchten mussten, nachdem sie von verschiedenen Mitgliedern der Gruppe "Paz y Justicia" aus El Crucero und Nuevo Limar angriffen worden waren. Seinen Aussagen zufolge wurden die Angreifer von Mateo Ramirez Lopez angeführt. Bei den anderen Aggressoren habe es sich um folgende Personen gehandelt: Julio Lopez Vazquez, Mateo Ramirez Lopez und Antonio Ramirez Lopez. Diese drei Männer hätten Magdalena und Gudalupe in der Gegenwart ihrer Kinder vergewaltigt.
 
Angesicht dieser gewalttätigen Angriffe seien die beiden Familien nach Misopa-Chinal geflüchtet. Ihre ganzen Besitztümer liessen sie zurück sowie auch ihre Maisfelder, Kaffeepflanzungen und Tiere.
 
Die für die Angriffe verantwortlichen Personen hätten grosskalibrige Schusswaffen getragen, die sie vom Bürgermeister von El Crucero erhalten hätten. Dieselben Personen hätten auch den Bauern Mateo Arcos Guzmann mit Machetenhieben getötet.
 
Seit der Vergewaltigung leidet Guadalupe Lopez an Kopfschmerzen, Erbrechen, Blutungen und Depressionen. Magdalena Lopez hat seither schwere Menstruationsstörungen und Blutungen, die Grund für eine starke Anämie sind, welche sie extrem schwächt.
 
Sie berichten, dass sie keine medizinische Hilfe bekommen hätten und es ihnen unmöglich sei, diese selbst zu organisieren, da das gesamte Dorf einem Belagerungszustand ausgesetzt sei, weshalb sie den Ort nicht verlassen könnten.
 
Sie leben gegenwärtig in einer kleinen Hütte aus Holzpflöcken und Palmdach und werden von Angehörigen des Dorfes mit dem Allernotwendigsten unterstützt.
 
Der aktuelle Zustand der Familie ist derart prekär, dass sie in Erwägung ziehen, in ihre angestammte Gemeinde zurückzukehren, um vielleicht einen Teil ihres Besitzes wiederzuerlangen, auch wenn das ihnen das Leben kosten könnte.
 
 
2. Die Gesprächspartner sind Vertriebene aus Cruz Palenque
"Wir organisieren uns nicht, damit Indigene andere Indigene töten. Wir organisieren uns, um zu arbeiten", erklärte ihr Sprecher der Delegation der Kommission. Er fährt fort: "Wir flüchteten am 1. August 1997, als bewaffnete Mitglieder von "Paz y Justicia" unsere Häuser umstellten, zuerst in die Luft und danach auf unsere Häuser schossen. Auf der Flucht wurde Nicolas Maya Gutiérrez erschossen. Der dreizehnjährige Miguel Gutiérrez Peñate wurde entführt und erschossen. Die Landespolizei fand seine Leiche, und er wurde beerdigt."
Ihre gesamten Besitztümer, einschliesslich ihr Vieh, sei in Cruz Palenque zurückgeblieben. Sie fordern, dass die Verantwortlichen diese Tiere zurückerstatten.
Die Regierung habe bisher keine Lösung angeboten.
 
An ihrem jetzigen Zufluchtsort Misopa fehle es an Nahrung, eine einstweilige Unterstützung in Form von Mais sei aufgebraucht. Land, um Mais anzupflanzen, gebe es nicht und auch keine Möglichkeit, Geld zu beschaffen.
 
 
I.3.1.4. AUSZÜGE AUS VERSCHIEDENEN INTERVIEWS MIT FRAUEN
 
Die Gespräche fanden am 21. Februar in Misopa-Chinal statt
 
Die Aussagenden stammen aus Cruz Palenque. Zu den bereits dokumentierten Vorfällen fügten sie folgendes hinzu:
 
-Die Geflüchteten suchten Schutz in drei verschiedenen Dörfern, womit ihre Gemeinschaft zerrissen wurde.
 
- Die Frage, ob Gewalt gegen die Frauen ausgeübt wurde oder ob es zu Vergewaltigungen von Seiten der Paramilitärs gekommen sei, wurde bejaht. Gleichzeitig stellten die Zeuginnen fest, dass einige Frauen nicht reden wollten, aus Angst davor, dass die Paramilitärs ihre Todesdrohungen wahr machen würden.
 
-Auf die Frage hin, ob es zu Gewaltausübung von Seiten des Militärs oder der Landespolizei gekommen sei, antworteten die Frauen, dass sich Soldaten und Polizisten einen Tag vor dem Überfall auf Cruz Palenque mit Mitgliedern von "Paz y Justicia" versammelt hätten, um auszumachen, wie am nächsten Tag gehandelt werden solle.
 
 
 
Gespräch mit einer zweiten geflüchteten Frau:
Die Frau berichtet, dass nach ihrer Flucht die Küchenutensilien und weiteren Besitztümer zerstört und ihre Häuser abgebrannt worden seien. Sie erzählt von der täglichen Angst, wie sie sich in Gruppen organisieren müssen, um Wäsche zu waschen oder Brennholz zu suchen. Sie bestätigt, dass sie momentan nicht allein das Lager verlassen können und dass nicht mal mehr die Männer allein aufs Feld gehen aus Angst davor, von den Paramilitärs angegriffen zu werden.
 
Sie erwähnt weiter, dass ihr Kleinkind krank sei, dass jedoch das Geld fehle, um einen Arzt aufzusuchen. Das wenige Geld müsse für Mais, Kaffee und Bohnen aufbewahrt werden, weil die Kinder den Hunger nicht aushielten.
 
Zur spezifischen gesundheitlichen Lage der Frauen befragt, antwortet sie, dass sie hier keine Hebamme hätten, da diese zur anderen Gruppe (der PRI) gehöre und deshalb in ihrem Dorf zurückgeblieben sei. Es fehle auch an Medikamenten und an Gesundheitszentren.
 
(Ein Mitglied ihres Dorfes sagt den Beobachterinnen, dass die interviewte Frau von Paramiltärs vergewaltigt worden war. Als sie im Interview darauf angesprochen wurde, senkte sie den Blick und wechselte rasch das Thema.)
 
Sie erläutert, dass das tägliche Leben erschwert sei, da sie keine eigenen Küchenutensilien mehr besässen und alles ausleihen müssten.
 
 
I.3.1.5. AUSZÜGE AUS DEM INTERVIEW MIT DER LANDESPOLIZEI
(SEGURIDAD PUBLICA)
 
Das Camp der Landespolizei befindet sich in Cerro-Misopa, Bezirk Tila
 
Cerro Misopa ist eine Gemeinde, in der sowohl Angehörige von Paz y Justicia als auch der Unterstützungsbasis der EZLN leben. Am Eingang des Dorfes befindet sich das Camp der Landespolizei auf einem kleinen Hügel, was den Polizisten einen Rundblick über die nähere Umgebung erlaubt.
 
Beim Interview wurden der Kommission keine Video- und Fotoaufnahmen erlaubt, alle teilnehmenden Personen der Kommission mussten jedoch ihre Namen angeben und wurden von der Polizei gefilmt und fotografiert.
 
Der Interviewte war der Zweite Offizier und hatte gerade erst seinen Posten bezogen. Er stellte fest, das in der Gegend kein Konflikt herrsche und alles ruhig und der Ort selbst sehr schön sei. Er überreichte der Kommission das Dokument "Ni Derechos ni Humanos" ("Weder Rechte noch Menschen", es handelt sich dabei um eine Broschüre von Paz y Justicia, A.d.Ü.). Er habe das Dokument von einem Mann bekommen, den er in einer anderen Gemeinde besucht habe. Es helfe, die Situation in dieser Zone besser zu verstehen.
 
Auf die Frage, wer die Gruppe Paz y Justicia sei, antwortete er, es sei eine zivile Organisation und er kenne sie nicht.
 
Er erwähnte weiter, dass sie hier seien, weil die Leute des Dorfes sie darum gebeten hätten. Ihre Aufgabe sei es, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Sicherheit zu bieten.
 
Im allgemeinen fühlten sie sich akzeptiert von den DorfbewohnerInnen, ausser von ungefähr einem Viertel der Bevölkerung, welche sie nicht gerne hier sähen.
 
 
 
 
 
 
I.3.1.6. AUSZUG AUS EINEM INTERVIEW MIT MITGLIEDERN VON PAZ Y JUSTICIA
 
Das Gespräch fand am 25. Februar im Bezirk Tila statt
 
Die Interviewten bezeugen, dass sie keine Waffen besässen, dass sie friedliche Menschen seien. Sie klagen die katholischen Pfarrer und AusländerInnen als Verantwortliche am Konflikt an. Konkret weisen sie auf Don Samuel Ruiz hin, der mit seinem Bischofsgehalt die ZapatistInnen unterstütze.
 
Sie erwähnen weiter, dass ihr Ziel die Anwendung des Gesetzes sei und dass sie nicht für den Tod von José Tila verantwortlich seien.
 
 
I.3.1.7. AUSZUG AUS EINEM INTERVIEW MIT ANGEHÖRIGEN DER UNTERSTÜTZUNGSBASIS DER EZLN, 25.2.98.
 
Sie fordern die Ausweisung der Gruppe Paz y Justicia aus der Gemeinschaft, da sie einem Teil der Bevölkerung verbieten, zur Arbeit zu gehen oder Verwandte in anderen Dörfern zu besuchen. Die PRI-treuen EinwohnerInnen hätten hingegen Bewegungsfreiheit.
 
In ihrer Gemeinde käme es häufig zu Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern von Paz y Justicia, was manchmal sogar mit Toten ende, die im nachhinein den Gruppen angehängt würden, die nicht mit ihnen sympathisieren.
 
Ein weiterer Repräsentant dieser Gemeinde hält fest, dass die Landespolizei des Bezirks die Namen der Mörder von José Tila wüssten, sich jedoch weigern würden, die Verantwortlichen festzunehmen, weil, so habe die Landespolizei öffentlich gesagt, der Haftbefehl noch nicht eingetroffen sei.
 
Am Tag nach dem Mord an José Tila habe eine Demonstration stattgefunden, an der 800 Personen aus 24 Gemeinden dieses Gemeindegebiets die Landespolizei auf friedliche Art und Weise ausgewiesen hätten. Weiter erwähnt er, dass die Unterstützungsbasis der EZLN es satt habe, dass ihre Forderungen von der Regierung nicht erhört werden und dass sie zur Gegenwehr bereit seien, da sie nicht mehr tolerieren könnten, sich einfach abschlachten zu lassen.
 
 
I.3.2. AUSZÜGE AUS DEN INTERVIEWS MIT DELEGIERTEN AUS DEM GEMEINDEGEBIET SABANILLA, ZONA NORTE
 
Wegen des gewalttätigen Klimas in dieser Region war es nicht möglich, die Gespräche mit diesen Delegierten in ihren jeweiligen Dörfern zu führen, weshalb die Interviews in San Cristóbal stattfanden. Eine Delegation der Kommission, die sich auf dem Weg ins Flüchtlingslager von Asunción Huitipan befand, sah sich durch eine Strassenblockade von PRI-SympathisantInnen zur Umkehr gezwungen, ohne die geplante Arbeit beendet zu haben. Diese Vorkommnisse wurden bereits erläutert.
 
 
I.3.2.1.GEMEINDE EL PARAISO
 
Vorkommnisse
Die BewohnerInnen dieser Gemeinde sagen aus, dass sie am 18. Januar 1997 durch gewalttätige Handlungen der Mitglieder von Paz y Justicia aus ihrem Dorf vertrieben wurden und es ihnen bis heute unmöglich gewesen sei, dahin zurückzukehren.
 
In der Nacht des 18. Januars 97 hätten schwerbewaffnete Mitglieder von Paz y Justicia die Häuser der Unterstützungsbasis der EZLN angegriffen, was der Auslöser für die massiven Flucht der BewohnerInnen gewesen sei. Die GesprächspartnerInnen machen Angaben zu Namen, Stellung dieser Personen innerhalb der Organisation Paz y Justicia, Waffentyp und Herkunft derselben.
 
Sie erzählen, dass der Gemeindepräsident, Jaime Pérez Méndez, PRI, von den priistischen BewohnerInnen des Dorfes um eine Bewilligung zur Intervention der Landespolizei, angefragt wurde.
 
Am folgenden Tag, als der grösste Teil der zapatistischen Bevölkerung bereits geflohen war, sei es zu einem zweiten Überfall, diesmal jedoch von Seiten der Landespolizei, Seguridad Publica, gekommen. Der angegebene Grund dafür sei die Leiche einer unbekannten Frau gewesen; jedoch befand sich diese am darauffolgenden Tag noch am selben Ort. Am 21. Januar seien erneut um die 600 Polizisten ins Dorf eingedrungen, unterstützt von zwei Helikoptern, die Granaten und Tränengasbomben abgeworfen hätten.
Dieser Angriff galt den Flüchtlingen, die Asunción Huitipan, ihren jetzigen Zufluchtsort, noch nicht erreicht hatten, und sich in den umliegenden Berge versteckt hielten. Dabei starb ein 17-jähriger Junge.
 
Laut ihren ZeugInnenaussagen hielt die Verfolgung an und wurde durch den Einsatz von abgerichteten Hunden verschärft.
 
Nach diesen Vorfällen haben die ca. 600 Flüchtlinge Angst, nach El Paraiso zurückzukehren, zumal die Landespolizei seit jenen Januartagen ein Lager im Dorf eingerichtet hat.
 
Aktuelle Lage der Vertriebenen
Sie erzählen, dass sie auch im Exil Drohungen von Paz y Justicia erhalten hätten. Auch bezeugen sie, dass all ihr Hab und Gut, vom Haus bis zu den Tieren, geraubt oder zerstört wurde und dass vieles von den PRIisten des Dorfes oder von Paz y Justicia, die nach ihrer Flucht in der Gemeinde geblieben sind, verkauft worden sei.
 
Ebenso raubten diese Kaffee- und Maisernte und behielten den Gewinn für sich. Dieselben, so klagen die Interviewten an, verbieten ihnen auch die Rückkehr nach El Paraiso und sie fürchten, dass sie sich ihr Land ebenso aneignen.
 
Momentan würden die Flüchtlinge mit Priisten zusammenleben, ohne dass es zu Problemen käme. Die ZeugInnen weisen jedoch darauf hin, dass die Situation sehr schwierig sei, da sie kein Land zum Bestellen hätten und ihnen deshalb das Grundlegendste zum Überleben fehle. Sie bezeichnen ihre Ernährungslage als das Hauptproblem, streichen aber heraus, dass es ebenso an Kleidung mangle und dass die Kinder am stärksten unter der jetztigen Situation zu leiden hätten.
 
Ebenso fehle es an Medikamenten, und die medizinische Betreuung sei prekär. Ihre Bewegungsfreiheit sei eingeschränkt, weil ihnen verboten wurde, sich vom Dorf zu entfernen. Laut den ZeugInnenaussagen kontrolliert Paz y Justicia die Strassen. So bleiben ihnen als Alternative nur Schleichwege, die nicht selten einen Umweg von 6 Stunden und mehr bedeuten. Durch diese Strassensperren würde ihnen auch verunmöglicht, die Schwerkranken oder Frauen mit Geburtskomplikationen ins Krankenhaus zu bringen, was zum Beispiel im Fall des Vaters des Anzeigenden zum Tode geführt habe.
 
Ausserdem fehle es an Schulen und Unterkünften. In ihren gegenwärtigen Behausungen seien sie allen Launen des Wetters ausgesetzt, was das Ausbrechen von Krankheiten weiter begünstige.
 
 
Anklagen gegen Paz y Justicia.
Gemäss den Angaben der Gesprächspartner hat Paz y Justicia im Jahr 1996 angefangen, sich zu organisieren. Das Ziel dieser Organisation sei es, sie zu vernichten. Paz y Justicia hingegen klagt die SympathisantInnen der EZLN als ProvokateurInnen an, was diese mit dem Argument zurückweisen, dass ihr politischer Kampf ein pazifistischer sei, da die Gewalt nur Tod und Hunger mit sich bringe. Ihr Ziel sei es, ihr Lebensbedingungen zu verbessern. Sie beklagen, dass ihnen verboten wurde, ihre Religion (die katholische) auszuüben und ihre politischen Überzeugungen zu vertreten, obwohl dies in der Verfassung Artikel garantiert würde.
Ein Zeuge erklärt, dass sie zur Mitgliedschaft in der PRI gezwungen werden sollen und sich der protestantischen Sekte anschliessen sollen, der die Organisation "Paz y Justicia" angehöre. Die katholische Kirche und ihre Kultobjekte seien von dieser Organisation angezündet worden.
Auf die Frage nach den Beziehungen mit den Mitgliedern von Paz y Justicia erklären sie, dass sie nicht nur jahrelang als Nachbarn zusammengelebt hätten, sondern dass es sich in vielen Fällen um Verwandte handle.
 
Die ZeugInnen erläutern, dass die Mitglieder von Paz y Justicia auch Bauern sind. Die BeobachterInnen fragten darauf, wie es denn möglich sei, dass diese Waffen besitzen würden, wo ihre Einkünfte doch sicher sehr gering seien. Sie antworteten, dass der Bürgermeister Gebrauch vom Gemeindebudget mache, um "Paz y Justica" Waffen zur Verfügung zu stellen. Auch sei das Geld aus dem Verkauf des Besitzes der Vertriebenen zum Waffenverkauf benutzt worden.
 
Die ZeugInnen erwähnen auch ein Gespräch mit einem PRI-Sympathisanten, der ihnen erzählte habe, dass der Justizbevollmächtigte befohlen habe, ihre Häuser zu zerstören.
 
Einer der BerichterstatterInnen ist als Führer der EZLN-SympathisantInnen angeklagt, was als Straftat ausgelegt wird. Er erklärt, dass er diese Anschuldigung für unrechtmässig hält.
 
Im Rathaus der Gemeinde seien sie darüber informiert worden, dass die unerlässlichen Bedingungen für ihre Rückkehr nach El Paraiso einerseits die Intervention der Landespolizei und andererseits die Festnahme von 6 der Vertriebenen seien.
 
Auch in ihrer Zufluchtsgemeinde würden sie von der Landespolizei verfolgt.
 
 
 
I.4. BESUCH IN DER GEMEINDE SAN QUINTIN
 
Vorbemerkung
San Quintin verdient eine besondere Berücksichtigung. In der Gemeinde, die sich am Ende einer der Wege befindet, die in den Lakandonischen Urwald führen, stellt die PRI die Mehrheit. Im Unterschied zu anderen priistischen Gemeinschaften ist San Quintin jedoch ausserordentlich gut ausgestattet. Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass der Ort sich in der Nähe des Aguascalientes La Realidad befindet.
Seit 1994 gibt es in San Quintin ein Militärlager. Vor kurzem ist ein breite, panzertaugliche Brücke fertiggestellt worden, die den Ort für den rollenden Verkehr erschliesst und auf diese Weise den militärischen Sperrgürtel um den Urwald schliesst.
Auf der Fahrt nach San Quintin kam die Kommission an vier Militärlagern vorbei. Vor einem dieser Lager wurden die Mitglieder der Kommission einer Kontrolle der Migrationsbehörde unterzogen. Die Anfragen der Kommission nach Gesprächen mit den Verantwortlichen der jeweiligen Militärlager wurden abschlägig beschieden. Bei allen Annäherungen an die Militärcamps wurden die Mitglieder der Kommission von den Wachposten gefilmt.
 
 
I.4.1. GESPRÄCH MIT CARLOS GOMEZ VELAZQUEZ, DEM GEMEINDEBEAUFTRAGTEN VON SAN QUINTIN, 20. FEBRUAR 1998
 
Der Gemeindebeauftragte erklärte, dass seine Gemeinschaft Unterstützung von der Regierung erhalte, dass ihre Forderungen weitgehend erfüllt würden und sie finanzielle Unterstützung für infrastrukturelle Massnahmen, Gemeindedienste, wie z.B. die Erziehung bekämen. In der Gemeinde würde Grund- und Hauptschulunterricht erteilt. Die 300 Kinder im schulpflichtigen Alter würden von 15 LehrerInnen unterrichtet. Auch die medizinische Versorgung sei gewährleistet. In schweren Fällen würden die Kranken mit Militärhubschraubern in das nächste Krankenhaus geflogen. Monatlich würden Impfungen durchgeführt und die im Ort verabreichten Medikamente seien unentgeltlich.
Auf die Frage nach den Besitzverhältnissen des Geländes, auf dem sich das Militärlager befindet, erklärt er, dass es Eigentum der Gemeinde gewesen sei. Er wisse aber nicht, ob dafür Miete bezahlt würde oder es eine Entschädigung für die Besetzung des Landes gegeben habe. Es sei ihm auch unbekannt, ob die Armee vorher um die Nutzung des Landes angefragt habe.
Dass die BürgerInnen von der Kaserne aus mit Videokameras gefilmt werden, ist dem Bürgermeister zufolge eine übliche Praxis.
 
Hinsichtlich der öffentlichen Bauarbeiten in der Gemeinschaft fiel vor allem der Ausbau der Zufahrtswege, die Kanalisationsarbeiten, die grosse Sendestation und die Arbeiten zur Elektrifizierung der Gemeinschaft auf.
 
Der Bürgermeister von San Quintin erkennt die Existenz von Gemeinschaften und Gemeinden an, die keine Unterstützung von der Regierung erhalten. Gleichzeitig äussert er seine Unkenntnis über Konflikte in benachbarten Gemeinschaften, da seine Gemeinde keinerlei Beziehungen mit ihnen unterhalten würde.
Abschliessend weist er auf vier weitere Bauvorhaben der Regierung in der Gemeinschaft hin.
 
Bezüglich der Anwesenheit von AusländerInnen erklärt er, dass die Gemeindeordnung die Teilnahme von AusländerInnen am Gemeinschaftsleben verbiete. Gleichzeitig dankt er der Kommission für ihren Besuch.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
II.
ANTWORTEN DER GENERALKOMMANDANTUR DER EZLN AUF EINEN FRAGEBOGEN DER CCIODH
 
 
Bedingt durch die angespannte Lage in Chiapas war ein Gespräch mit der Kommandantur der EZLN nicht möglich. In der Folge handelt es sich um die Transkription eines Videos, das die EZLN der Kommission in Beantwortung der schriftlich an sie gestellten Fragen zukommen liess.
 
SUBCOMANDANTE MARCOS ANTWORTET AUF DIE FRAGEN DER NATIONALEN UND INTERNATIONALEN ZIVILGESSELLSCHAFT:
 
- Wir wollen dem Sistema Zapatista de Televisión Intergaláctica für die Gelegenheit danken, uns an Sie zu wenden und einige Fragen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit sowie der Internationalen Zivilen Kommission für Menschenrechte zu beantworten.
 
- Wie schätzt die EZLN den Konflikt nach dem Massaker in Acteal ein?
 
- Die Regierung entwarf vor dem Massaker von Acteal eine Strategie, um den Konflikt in Chiapas auf ein Problem zwischen Gemeinden und Ethnien zu verlagern. Dies war der Sinn der Bewaffnung der paramilitärischen Gruppen. Der Krieg sollte zu einer Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Indigenas werden: jenen der EZLN und den Paramilitärs von PRI und Regierung.
Die Ereignisse von Acteal werden sofort als ein Staatsverbrechen erkannt. Die Regierungsstrategie kommt dabei zum Vorschein, es wird klar, dass an den Händen der Regierung Blut klebt. Die Nachricht über Acteal wurde indes "leider via Internet und Fernsehen publik, noch bevor die Regierung ihre eigene Version verbreiten konnte", wie es aus dem Aussenministerium hiess. Die Regierungsstrategie nahm ihren Lauf, um in der Öffentlichkeit und im Inneren der Macht die Legitimität und Zustimmung zur Vernichtung der EZLN zu bekommen.
Wenn die Regierung von der Vernichtung der EZLN redet, meint sie im besten Fall die Auslöschung der Führungsspitze der EZLN, damit die Verhandlungen mit einem enthaupteten Körper geführt werden können. Wir glauben, dass diese Strategie der Schläge gegen das Umfeld der EZLN, um die Zapatisten und deren Führung zu isolieren, nach dem Massaker von Acteal deutlicher zutage getreten ist. Wenn dann zugeschlagen werden wird, sollen weder Unterstützung noch unbequeme Zeugen vorhanden sein.
Nacht Acteal hat sich nichts Grundsätzliches an der Regierungsstrategie geändert. Gleichzeitig war zu beobachten, dass das Blut unserer Brüder von Acteal zugleich das nationale und internationale Bewusstsein aufgerüttelt hat. Und es hat auf zwei grundlegende Sachverhalte hingewiesen: Zum einen ist die Strategie des Zeitaufschubs zur Lösung des Problems gescheitert und zum anderen ist durch Acteal klargeworden, dass die Regierungsstrategie auf den Ethnizid, die Vernichtung der Indigenen des Landes abzielt.
Für uns ist Acteal die Antwort der Regierung auf die indigene Frage. Aber dieser Schlag, diese Ohrfeige gegen die nationale und internationale Öffentlichkeit führte auch zu einer grossen Mobilisierung, zu neuem Druck, der den chiapanekischen Konflikt, die indigene Frage und die Kluft zwischen einem neoliberalen Wirtschafts- und Sozialmodell und den Gründervölkern dieser Nation - den indigenen Völkern - erneut in die öffentliche Debatte brachte.
Es hat sich gezeigt, dass wir vom EZLN recht hatten, als wir sagten, dass es der Regierung am Willen fehlt, dass sie auf Zeit spielt und einen Vorwand sucht, um den Konflikt militärisch zu lösen. Acteal sorgte für die Zuordnung aller Akteure auf die eine oder andere Seite, der CONAI, des Kongresses der Union, der politischen Parteien. Und Acteal zeigte allen, inklusive der EZLN und der Bundesregierung, die Existenz eines wichtigen Akteurs auf, welcher nach Acteal eine zentrale Rolle übernahm, der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft.
 
Die Möglichkeit, dass sich Acteal nicht wiederholt, die Hoffnung, dass die indigenen Völker wiedererlangen können, was ihnen rechtmässig zusteht, dass der Frieden eine Zukunft der indigenen Völker Mexikos sein wird, und dies in einer besseren Welt, haben nun dank des zivilen Drucks eine höhere Wahrscheinlichkeit erlangt.
 
Dies zeigt uns die Bedeutung des Gesprächspartners, an den wir uns hiermit über das "Intergalaktische Zapatistische Fernsehsystem" wenden: die Bedeutung der Zivilgesellschaft, über ihre Komitees, ihre sozialen und politischen Organisationen, die Nicht-Regierungs-Organisationen und auch in Gestalt des unorganisierten, aber zur Teilnahme bereiten Bürgers, der solche Dinge nicht ungerührt über sich ergehen lassen kann..
 
- Vertraut die EZLN darauf, dass im Fall Acteal und der anderen politischen Morde in Chiapas Gerechtigkeit widerfährt?
 
- Wir glauben nicht daran, weil diejenigen, die über Verantwortung und Schuld bezüglich des Massakers von Acteal entscheiden, in anderen Fällen Indígenas umgebracht haben.
In diesem Zusammenhang sind die Äusserungen der PGR skandalös, die das Massaker von Acteal zunächst als eine bewaffnete Auseinandersetzung darstellte, obwohl die Opfer nicht bewaffnet waren, dann als Konflikt zwischen Gemeinden und dann als Konflikt zwischen Familien...
Auf die eine oder andere Art zeigte sich, was wir bereits in den ersten Tagen gesagt hatten, dass es eine direkte Verantwortung der staatlichen Sicherheitskräfte gab, nicht nur durch die Deckung, sondern auch durch die Verübung des Deliktes selbst und durch die Mittäterschaft aus dem Innenministerium und der Präsidentschaft der Republik. Kommandanten der Sicherheitskräfte sind in die Bewaffnung, die Ausbildung und den Schutz der paramilitärischen Gruppen involviert. Deshalb werden zwei, drei Sündenböcke präsentiert und dann erklärt: "das Problem ist gelöst". Die Wahrheit über Acteal werden wir nicht erfahren, solange jene Leute, die den Befehl gaben, in der Regierung sitzen. Wir werden noch hundert Jahre warten müssen, um zu wissen, was geschah.
Die vermeintlichen Kämpfe zwischen Gemeinden sind in Wirklichkeit auf von der Regierung bewaffnete Paramilitärs zurückzuführen, welche gegen die Basis oder Sympathisanten der Zapatisten agieren, ohne dabei Militäruniformen zu tragen. So gesehen existiert keine Auseinandersetzung zwischen zwei Armeen im Sinne der Genfer Konventionen. Dies erlaubt der Regierung, sich den Schein eines Vermittlers zu geben, statt als Konfliktpartei aufzutreten. Die Argumentation, es handele sich um einen interethnischen Konflikt, folgt dem alten Klassendenken der Regierungselite, für das die Indígenas Barbaren und Perverse sind, welche sich gegenseitig Schaden zufügen möchten. Diejenigen, welche die indigenen Gemeinden kennen, wissen hingegen, dass die grundsätzlichen Probleme der Indígenas nicht von Differenzen mit anderen indigenen Gruppen herrühren, sondern im Zusammenhang mit der Modernisierung, der Globalisierung und der grossen sozialen Ungerechtigkeit stehen.
Im Falle des Konfliktes in Chiapas werden religiöse Probleme angeführt, um die Kirche als Förderin des zapatistischen Aufstandes darzustellen. Dieses vier Jahre alte Argument wird alljährlich mit unterschiedlicher Intensität wiederholt, obwohl es durch die Tatsachen längst entkräftet worden ist.
 
- Soll mit den Aktivitäten der Weissen Garden oder Paramilitärs die Ausweitung des Zapatismus gebremst werden?
 
- Ja, eine der Facetten dieses Krieges der Regierung gegen die indigenen Völker, neben der Einkreisung durch die Bundesarmee und Verfolgung durch die Polizei, ist die Schaffung und Bewaffnung von durch die Landes- und Bundesregierung sowie durch die Grossgrundbesitzer unterstützten Gruppen innerhalb der Gemeinden, um gegen die Oppositionellen vorzugehen. Nicht nur der Zapatismus, sondern auch andere oppositionelle politische Gruppen sind davon betroffen.
 
- Hat die EZLN auf die gegen ihre Basis gerichteten Aggressionen von Seiten der Paramilitärs, der Sicherheitskräfte und der Bundesarmee militärisch reagiert?
 
- Nein, das haben wir nicht getan. Auf Grundlage einer Übereinkunft zwischen den Gemeinden haben wir uns für den zivilen Widerstand und die öffentliche Anklage entschieden. Wir wollen bezüglich der Paramilitärs nicht in die Falle eines Krieges zwischen Bauern, zwischen Indígenas, laufen. Was die Sicherheitskräfte und die Bundesarmee betrifft, bewegen wir uns noch immer im Rahmen des Mandats der Zivilgesellschaft, den Verhandlungsweg zur Lösung des Konfliktes zu gehen. Wir haben versucht, Provokationen zu vermeiden, andere Wege zu finden, um die Schuldigen zu bestrafen.
 
 
- Worin besteht der "Sozialdienst" der Bundesarmee in Chiapas?
 
- Diese Art Sozialdienst wird in jedem Handbuch der Aufstandsbekämpfung der nordamerikanischen Armee zur Bekämpfung einer bewaffnete Opposition beschrieben. Die Zivilbevölkerung soll über soziale und wirtschaftliche Hilfe, über medizinische Betreuung gekauft werden und gleichzeitig sollen damit Informationen erschlichen bzw. Leute in die Gemeinden eingeschleust werden, um an Informationen über die Stellungen der oppositionellen Gruppierungen, deren Befehlsstrukturen und Bewaffnung heranzukommen. Parallel hierzu werden die paramilitärischen Gruppen ausgerüstet, mit Medizin versorgt und ausgebildet, um gegen die Gemeinden vorzugehen.
Bei den sogenannten sozialen Diensten der Bundesarmee in Chiapas handelt es sich um eine militärische Arbeit in einer unbewaffneten Phase.
 
- Wie sieht die Menschenrechtssituation in Chiapas aus?
 
- Die Menschenrechte werden seit jeher andauernd verletzt, Tendenz steigend. Dabei handelt es sich nicht nur um Verhaftungen, Schläge und Folter, sondern auch um Morde und das Verschwindenlassen von Menschen.
Wir werden gefragt, ob wir die Menschenrechte in unseren Einflussgebieten respektieren. Ich glaube, dies beantwortet am besten ein für die politische und organisatorische Leitung der EZLN verantwortlicher Compañero, Kommandant Tacho.
 
Tacho: Im Einflussgebiet der EZLN werden die Menschenrechte unserer Meinung nach respektiert, doch wir sind Partei in diesem Konflikt, weshalb es viel besser wäre, wenn internationale Organisationen sich ein Bild vor Ort machen würden, um festzustellen, ob die Menschenrechte in den zapatistischen und den nicht-zapatistischen Gemeinden eingehalten werden.
 
- Gibt es in den mexikanischen Gefängnissen politische Gefangene?
 
- Marcos: Sehr viele Zapatisten sitzen im Gefängnis, nicht nur in Chiapas, sondern auch in anderen Teilen der Republik. Ebenso gibt es politische Gefangene aus anderen politischer und sozialen Organisationen, weil es ein Delikt ist, OppositionelleR, RebellIn zu sein und die Menschenrechte zu verteidigen. Die Liste ist sehr lang...
Ich habe eine Frage zu Acteal übersprungen: die Aktionen der paramilitärischen Banden haben das Phänomen der Vertriebenen hervorgerufen, die eigentlich korrekter Flüchtlinge genannt werden müssten, weil sie Vertriebene im Rahmen eines kriegerischen Konfliktes sind. Die Compañeros meinen, die Lösung des Problems bestände in der Änderung der Lebensbedingungen dieser Vertriebenen, die sich in einer wirklich dramatischen Situation befinden, am Rande des Todes. Die Probleme betreffend Gesundheit, Nahrung und Wohnraum müssen gelöst werden, um ihr Überleben sichern zu können.
Ein weiterer Punkt ist, dass die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für ihre Rückkehr geschaffen werden müssten. Dazu gehören die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen, die Garantie auf Leben und Güter und natürlich ein verbindliches Abkommen, welches eine Wiederholung dieses Phänomens verhindert, im weiteren eine Entschädigung der Opfer der Paramilitärs, damit die Betroffenen neu beginnen können, denn sie haben alles verloren: ihr Haus, ihr Land, ihre Kleider, ihre Arbeitsutensilien. Sie sind mit dem geflohen, was sie am Leib trugen, und besitzen nichts mehr. Wir sind der Meinung, dass da die Unterstützung durch die Zivilgesellschaft sehr wichtig ist, denn die Regierung interessiert sich nicht dafür.
 
- Was verstehen die ZapatistInnen unter indigener Autonomie?
 
- Das zapatistische Autonomiekonzept ist das der indigenen Völker, welches in den Abkommen von San Andrés seinen Ausdruck fand. Das Autonomiekonzept der Zapatisten ist das der Abkommen von San Andrés, die Regierung und Zapatisten am 16. Februar 1996 unterzeichnet haben und die im grossen Ganzen anerkennen, dass die Indígenas Teil der mexikanischen Nation, aber verschieden sind, mit ihrer Verschiedenheit anerkannt und eingegliedert und nicht gleichgemacht werden müssen, wie einige gerne möchten. In diesem Fall bedeutet Gleichmacherei Vernichtung. Die Abkommen von San Andrés geben die Autonomie wieder, die wir wollen. Wir wollen weder Unabhängigkeit noch einen anderen Staat innerhalb des mexikanischen Staates, wir wollen eine Autonomie in dessen Rahmen.
- Ist die Schaffung autonomer Gemeinden die Form, mittels der die ZapatistInnen auf die fehlende Anerkennung der Abkommen von San Andrés auf gesetzlicher Ebene reagieren?
 
- Die Schaffung autonomer Gemeinden ist die Form, in der die indigenen Gemeinschaften die Abkommen von San Andrés erfüllen und umsetzen. Diese erkennen die Fähigkeit der indigenen Völker an, sich selbst nach ihren Bräuchen und Sitten zu regieren, nach eigener Art. Das ist es, was zur Zeit geschieht und den autonomen Gemeinden Sinn verleiht. Auch wenn die Regierung die Abkommen nicht erfüllt, betrachten sie sie für beschlossen und setzen sie um.
 
- Wer regiert in Chiapas?
 
- In Chiapas regiert auf Seiten der Regierung die Bundesarmee. Scheinbar existiert eine Koexistenz zwischen Zivilregierung und Militärregierung, aber in Wirklichkeit stellt die Zivilregierung nur eine Maske, das freundliche Gesicht einer Militärregierung dar. Das gesamte soziale und politische Leben ist militarisiert und die wesentlichen und strategischen Entscheidungen im Bundestaat Chiapas werden vom General der siebten Militärregion mit Sitz in Tuxtla, und nicht im Regierungspalast derselben Stadt gefällt. Die Militärs entscheiden über die sozialen Investitionen, die militärischen Bewegungen, die Struktur der Polizei, die Verteilung der Paramilitärs.
 
- Erfüllt die COCOPA ihre Aufgaben als Hilfsinstanz im Dialogprozess?
 
- Es ist noch zu früh, um dies zu beantworten. Die COCOPA ist wie eine Wetterfahne inmitten des politischen Gewitters, des Drucks von Seiten der Regierung und der Parteiführer, die vor einem Wahlkampf stehen. Die Regierung versucht mit Nachdruck, die COCOPA auf ihre Seite zu ziehen, um eine legislative Garantie für den Krieg zu haben. In diesem Sinne gelingt es der COCOPA nicht, im Rahmen der neuen Situation im chiapanekischen Konflikt ihren Platz wiederzugewinnen. Doch das wichtigste in diesem Zusammenhang wird die Antwort auf die Äusserungen der Regierung hinsichtlich der Gesetzesinitiative sein. Die Reform und der Inhalt der Antwort der COCOPA auf diese Bemerkungen der Regierung werden einer der wichtigsten Punkte zur Beantwortung dieser Frage sein.
 
- Welches ist die Bedeutung von CONAI als Vermittlungsinstanz?
 
- In der Regierung und gewissen Kreisen der Macht gibt es verschiedene Gruppierungen, die darauf drängen, dass der Dialog direkt, ohne Vermittlung, erfolgen soll. In diesem Sinne sind sowohl CONAI als auch COCOPA ein Hindernis für die Lösung des Konfliktes.
Nach Ansicht der EZLN braucht es zur Lösung dieses Konfliktes eine Vermittlung, die eine Art Brücke zur Zivilgesellschaft darstellt, denn sie war es, die sich zwischen die Konfliktparteien gestellt hat.
Als der zapatistische Aufstand und die Kämpfe zwischen Bundesarmee und zapatistischem Heer begannen, stellte sich eine nationale und internationale Bewegung zwischen die Kämpfer und sagte: es muss ein Dialog geführt werden. In diesem Kontext tauchte die Vermittlung auf, welche dem Konflikt in Chiapas seit 1994 seine spezielle Charakteristik verleiht. Es sind Zeugen nötig, Augen, Ohren und Hände der Zivilgesellschaft am Verhandlungstisch, damit das, was geschieht wirklich ernsthaft und tiefgreifend ist und zu einem Friedensabkommen führt. Wenn die Regierung den direkten Dialog wünscht und einseitig die Vermittlung und Unterstützung übernehmen will, so nicht um das Ganze zu beschleunigen, sondern weil sie darauf setzt, dass ein direkter Dialog die EZLN in der Logik der staatlichen Politik der geheimen Abmachungen, finanziellen Zuweisungen und Begünstigungen für die Führer absorbieren könnte. In diesem Sinne ist die CONAI, und damit meine ich nicht ein Individuum, sondern die Mitglieder der Kommission, in dem Ausmass wichtig, in dem sie Empfinden und Interessen der Zivilgesellschaft im Konflikt wiedergibt. Auch der COCOPA wird durch die Regierungsstrategie ein Schlag versetzt. Im Fall der CONAI sind die Schläge eher plump und protzig. Wenn die CONAI etwas verkündet, was der Strategie der Isolierung der EZLN dient, wird sofort positiv über die Vermittlung gesprochen, werden die Vermittler verteidigt. Doch wenn die CONAI erklärt, dass die Bedingungen für die Wiederaufnahme eines Dialogs nicht gegeben seien und sich gegen die Militarisierung und paramilitärischen Gruppen ausspricht, so wird sie sofort als Konfliktpartei und nicht als Vermittler bezeichnet.
Bezüglich CONAI und COCOPA ist es wichtig, dass die Vermittlungs- und Hilfsinstanzen erhalten und gestärkt werden. Wir haben kein Interesse an der Schwächung, weder der einen noch der anderen. Im Gegensatz dazu ist es für die Regierungsstrategie notwendig, das diese Instanzen verschwinden oder zumindest ihre Bedeutung einbüssen, damit Mexikos Regierung freie Hand hat, um in dem Masse, in dem die Vernunft keine Möglichkeit für sie darstellt, das Einzige durchzusetzen, was ihr bleibt: den Gebrauch der Gewalt.
 
- Was denkt die EZLN über die Arbeit der Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte? Was meint sie zur Kampagne gegen AusländerInnen in den Konfliktgebieten?
 
- Soweit uns bekannt ist, hat die Kommission zu keinem Zeitpunkt die neutrale und objektive Haltung aufgegeben, die eine Kommission dieser Art wahren muss. Es wurden mit praktisch allen AkteurInnen Gespräche geführt, ausser mit uns, doch wir benutzen dieses Medium, um uns an sie zu wenden. Die Kommissionsmitglieder haben nicht nur Respekt, sondern auch Mut bewiesen. Sie sind zu einem Zeitpunkt gekommen, in dem eine gewaltige Kampagne gegen AusländerInnen geführt wird. Trotz dieser Einschüchterungs- und Verfolgungskampagne haben sie ihr Programm durchgezogen. Wir haben die Hoffnung, dass alles, was sie in den Tagen ihres Aufenthaltes in Chiapas gesehen und gehört haben, an die Organisationen ihrer Länder weitervermittelt werden wird; all die Interviews mit FunktionärInnen, VermittlerInnen, UnterstützerInnen und direkten AkteurInnen des Konfliktes, womit ich die indigenen Völker meine.
Die Kommission ist gewissermassen zu den Augen eines Teils der internationalen Öffentlichkeit geworden. Sie hat keine Versuche unternommen, sich in die internen Angelegenheiten Mexikos einzumischen. Auch ist es ihr gelungen, eine Bilanz darüber aufzustellen, was in diesem Gebiet seit dem Massaker von Acteal geschehen ist, welche Probleme gelöst wurden, welche sich verschlimmert haben. Es ist wichtig, in Mexiko und auf der ganzen Welt davon Kenntnis zu haben.
Bezüglich der Präsenz von Ausländern in den Konfliktgebieten existiert eine Strategie, ein Plan, welcher sich in striktem Sinne darauf reduzieren lässt, dass die Regierung die Zapatisten vernichten will. Die Regierung möchte die Ausländer in dreifacher Hinsicht gebrauchen. Erstens, um eine Legitimität zu bekommen, welche sie im Land nicht besitzt. Mexiko ist ein sehr nationalistisches Land und auf seinen Nationalismus sehr stolz. Doch nun, wo die hauptsächliche Menschenrechtsverletzerin die mexikanische Regierung ist, gibt sich diese als Verteidigerin der nationalen Werte aus und richtet sich gegen die Ausländer. Sie versucht auf anderen Wegen die Unterstützung und Legitimität zu gewinnen, die sie verloren hat. Ein weiterer Teil des Plans besteht in der Beseitigung unbequemer internationaler Zeugen, welche berichten könnten, was vor sich geht, womit ich nicht nur ein Unheil wie Acteal meine, sondern das, was jetzt geschieht, der Krieg, der im Gange ist. Die Zivile Internationale Kommission wird sich ja selbst ein Bild des Abnützungskrieges, des alltäglichen Grauens, dem die indigenen Gemeinden ausgesetzt sind, gemacht haben. Die Regierung möchte gerne einen kleinen, lautlosen Krieg führen, der nicht viel Anlass zu Skandalen gibt, damit er zu Ende gebracht werden kann.
Ein weiterer Gebrauch, den die Regierung von den Ausländern, durch die Kampagne gegen jene, die vorgeblich ihren Aufenthaltsstatus verletzen, machen möchte, besteht darin, über einen Angriff gegen die Ausländer die Gemeinschaften anzugreifen. Einer der folgenden Schritte im Rahmen dieser Regierungsstrategie wäre dann ein Angriff auf die Aguascalientes und die indigenen Gemeinden, wo Friedenscamps bestehen, unter dem Vorwand, Ausländer zu überprüfen, die sich nicht an die Migrationsgesetze gehalten haben. Unter diesem Vorwand werden sie gegen die Gemeinden vorgehen, Verhaftungen vornehmen und die Aguascalientes einnehmen.
 
- Wenn weder die Regierung bereit ist, die Abkommen von San Andrés einzuhalten, noch die EZLN, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, bis die fünf Bedingungen nicht erfüllt sind, welche Alternativen der Konfliktlösung bleiben dann? Was ist zu tun?
 
- Von Bedeutung ist, was unter den fünf Bedingungen subsumiert ist, was in diesem Dialogprozess auf dem Spiel steht: ob der Dialog der Weg der Konfliktlösung ist oder nicht. Wenn die Regierung sagt: "Wir erfüllen die Abkommen von San Andrés nicht", dann sagt sie damit, dass sie das Problem nicht auf dem Weg des Dialogs lösen wird. Damit untergräbt sie alle in den Dialog gesteckten Hoffnungen der Zivilgesellschaft und der EZLN, verliert an Glaubwürdigkeit sowie Vertrauen. Und ohne Vertrauen kann es keinen Dialog geben.
 
Bei den fünf Bedingungen handelt es sich keineswegs um militärische Bedingungen der Kapitulation. Sie beziehen sich auf den Willen zum Dialog, Frieden und der definitiven Abkehr von einer kriegerischen Lösung des Konfliktes. Wir glauben, dass die Alternative darin besteht, dem Dialog Glaubwürdigkeit zu verleihen, doch dies ist nur möglich, wenn die Regierung ihr Wort hält und die Abkommen von San Andrés erfüllt. Und dies kann nur mit Hilfe einer breiten Bewegung der Zivilgesellschaft geschehen.
 
- Wie steht es um die Gültigkeit der fünf Bedingungen, welche die EZLN für eine Rückkehr zum Dialog gestellt hat?
 
- Die erste Bedingung ist die Einhaltung der Abkommen über die Rechte und Kultur der Indígenas und entsprechend die Bildung der Überwachungs- und Überprüfungskommission, welche die Erfüllung dieser Abkommen überwacht. Diese Forderung besteht weiterhin. Die Regierung hat bei verschiedenen Gelegenheiten, mit unterschiedlichen Argumenten und Vorwänden, die Initiative der COCOPA abgelehnt und alles unternommen, um die Kommission zu sabotieren. Es gibt keine Hoffnung, keine Indizien dafür, dass die Regierung diese Forderung erfüllen wird, in der die anderen vier zusammengefasst sind. Und in dieser Weigerung wird das zusammengefasst, was ich schon gesagt habe: es steht der Weg des Dialogs oder der Weg des Krieges zur Konfliktlösung auf dem Spiel.
Die zweite Bedingung bezieht sich auf die Verhandlungsrunde über Demokratie und Gerechtigkeit. An diesem Punkt kam es zu keinem Ergebnis, weil die Regierung die Absicht verfolgte, den Dialog platzen zu lassen. Ein ernstgemeinter Vorschlag wäre nötig, doch solange die bereits unterzeichneten Abkommen nicht eingehalten werden, besteht keine Hoffnung auf weitere Übereinkünfte in diesem Dialog.
Die dritte Bedingung hat die Einstellung der Verfolgung und Übergriffe durch Militär und Paramilitärs in den chiapanekischen Gemeinden zum Inhalt. Diese Entwicklung hat sich aber verschlimmert. Wenn jemand dachte, Acteal sei der Gipfel der Militarisierung und Paramilitarisierung und des Angriffs auf indigene Gemeinden gewesen, so wissen wir jetzt, zwei Monate später, dass dem nicht so ist, dass das Grauen noch schlimmere Ausmasse annehmen kann, wie im Alltag in den indigenen Gemeinden des Nordens von Chiapas, den Altos, im Regenwald, an der Küste, in allen indigenen Gemeinden des mexikanischen Südostens zu beobachten ist. Es sind keine Anzeichen einer möglichen Kontrolle oder einer Umkehr in Sicht. Nebst den Paramilitärs haben die Militärs ihre Stellungen verstärkt, die Zahl der Soldaten erhöht und ihre Technologie ständig verfeinert. Die Stationierung der Bundesarmee steht nicht für einen Dialog, sondern für einen militärischen Schlag. Die gegen die Gemeinden und zapatistische Basis gerichteten Verfolgungen und Angriffe nehmen immer unverschämtere Formen an. Sie nahmen am 1. Januar 1998 ihren Anfang und wiederholen sich alltäglich, eins ums andere Mal, unter dem Vorwand der Anwendung des Gesetzes über Feuerwaffen, der Suche nach Marihuana, des sozialen Dienstes; manchmal gehen die Soldaten auch ohne Vorwand gegen die indigenen Gemeinden vor. Ihnen folgt ihre Verstärkung: Prostitution, Drogen, Alkoholismus und damit natürlich der soziale Zerfall der Gemeinschaften.
Die vierte Bedingung ist die Freilassung der zapatistischen Gefangenen im ganzen Land. Nicht nur in den Gefängnissen Chiapas' gibt es zapatistische Gefangene, sondern auch in anderen Teilen der Republik. Wenn von einem Dialog die Rede sein soll, können wir nicht wie Delinquenten behandelt werden. Da muss man konsequent sein.
Die fünfte Bedingung nimmt Bezug auf die Notwendigkeit der Ausstattung eines durch die Regierung zu ernennenden oder bereits bestehenden Bevollmächtigten mit Entscheidungskompetenz, um bindende Beschlüsse fassen zu können.
Seit Formulierung dieser Forderung sind schon zwei Bevollmächtigte, die Herren Bernal und Pedro Joaquín Coldwell, von ihrem Amt zurückgetreten. Nun übt Emilio Rabasa Gamboa diese Funktion aus. Er hat bereits bewiesen, dass er weder über die notwendige Unabhängigkeit, noch über Zuverlässigkeit oder Respekt verfügt. Von allen Bevollmächtigten ist Rabasa der einzige, der sich bei einer der Parteien nicht förmlich vorgestellt hat, das heisst bei uns. Rabasa hat sich nie auf die EZLN bezogen, hat diese Konfliktpartei nie ernst genommen. Diese fünfte Bedingung ist also auch nicht erfüllt worden.
 
- Wenn die Regierung das von COCOPA ausgearbeitete Gesetz über die Rechte und Kultur der Indígenas annimmt, wenn sie einen ernsthaften Vorschlag zum Themenkomplex Demokratie und Gerechtigkeit macht, wenn sie die militärische und paramilitärische Übergriffe gegen die indigenen Gemeinden in Chiapas einstellt, wenn sie einen Verhandlungsbevollmächtigten mit Entscheidungskompetenz, Respekt und Zuverlässigkeit ernennt und die zapatistischen Gefangenen freilässt, ist dann die EZLN bereit, ohne neue Bedingungen und ohne Vorwände den Dialog wiederaufzunehmen?
- Die Antwort ist ja. Wenn die fünf Bedingungen erfüllt werden, kehren wir zum Dialog zurück. Seit der Formulierung der fünf Bedingungen sind neue Situationen aufgetreten. Der Konflikt hat sich verschlimmert, aber die EZLN hat keine neuen Bedingungen zu jenen von 1996 hinzugefügt, seit der Dialog mit der Regierung suspendiert wurde. Wenn die Regierung die Initiative der COCOPA akzeptiert, wenn sie einen ernsthaften Demokratisierungsvorschlag unterbreitet, wenn sie mit der Verfolgung und Einschüchterung der indigenen Gemeinden aufhört, wenn sie ihren Bevollmächtigten mit Entscheidungskompetenz, Zuverlässigkeit und Respekt ausstattet, wenn sie die zapatistischen Gefangenen freilässt, wenn all dies geschieht, dann wären wir zur Rückkehr zum Dialog bereit. Leider wird die Regierung nicht eine der Bedingungen erfüllen. Die Regierung glaubt nicht daran, dass der Dialog der Weg zur Lösung des Konfliktes sei. Sie will durch die Verhandlungen und den Dialog nur Zeit für die Durchsetzung des militärischen Weges gewinnen. Wir sehen darin keine Lösungsmöglichkeit, weshalb wir auf diese Vermittlung setzen, darauf, dass diese Botschaft Sie erreicht, denn aus der Zivilgesellschaft kann neuerlich diese Bewegung hervorgehen und sie kann erreichen, dass der Dialog wieder die Rolle einnimmt, die er verdient, das heisst die einer friedlichen Konfliktlösung.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
III.
GESRPÄCHE MIT MEXIKANISCHEN INSTANZEN UND ORGANISATIONEN
 
 
 
III.1. INTERVIEW MIT DER PARLAMENTARISCHEN HILFSINSTANZ COCOPA
 
Das Interview wurde am 16. Februar 1998 in Mexiko-Stadt geführt. Von Seiten der COCOPA waren 16 Parlamentsabgeordnete vertreten (Vertreter der PRI, PAN, PRD, Partido verde ecologista, PT und zwei Repräsentanten aus Chiapas) Die Kommission wurde recht herzlich empfangen und war während mehr als zwei Stunden Gast der fast vollzählig vertetenen COCOPA. Nur gegen Schluss kam es zu Spannungen, als ein Repräsentant der PRI die Zusammensetzung und die Ziele der Kommission in Frage stellte.
 
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde begann das eigentliche Interview. Die verschiedenen Mitglieder der COCOPA vertraten unterschiedliche Standpunkte, auch wenn sie der Kommission grundsätzlich wohlwollend gegenüberstanden. Sie bedankten sich bei uns für unsere Solidarität und einer der Repräsentanten aus Chiapas bestand darauf, dass wir auch das andere Chiapas, das gedeihende, das arbeitende und das Frieden wollende, kennenlernen müssten. Daraufhin führten andere Mitglieder der COCOPA an, dass in ganz Mexiko, von der Zivilgesellschaft bis zur SEDENA (Secretaria de Defensa Nacional/ Verteidigungsministerium) niemand Krieg wolle.
 
Zu Anfang informierten sie uns über die langwierigen parlamentarischen Bemühungen für den Frieden, die am 11.3.95 zur Gründung der COCOPA geführt hätten. Zum heutigen Zeitpunkt seien nur noch drei Gründungsmitglieder Teil der COCOPA, da es nach den Wahlen vom 6.7.97 zu einer Neuzusammensetzung dieser Hilfsinstanz gekommen sei. Im Verlauf des Dialogs habe die COCOPA eine Unterstützungsrolle zwischen den beiden Seiten - der EZLN und der Exekutive - übernommen. Die Prinzipien der COCOPA seien aktive Neutralität, Pluralität und der Wille, die Parteien einander anzunähern, ohne dass es dabei zu einem persönlichen oder parteipolitischen Protagonismus komme. Die Arbeitsweise der COCOPA beruhe auf dem Konsensprinzip, was zum Teil harte Arbeit bedeute, um die sehr unterschiedlichen Standpunkte innerhalb des Ausschusses ins Gleichgewicht zu bringen.
 
Betreffend des Konfliktes, der am 1.1.1994 ausgebrochen war, erklärten sie, dass dieser reale Hintergründe gehabt habe, womit deutlich wurde, dass nicht AusländerInnen die Verantwortlichen sind, wie in den vergangenen Tagen einige Medien weismachen wollten.
 
Über die Initiative zur Verfassungsreform, welche die COCOPA auf Bitte der beiden Parteien ausgearbeitet hatte und die am 29.11.96 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, äusserten die Anwesenden, dass dieses Dokument ein Versuch dargestellt habe, die Vereinbarungen von San Andrés in eine juristische Sprache zu übersetzen. Aus diesem Grunde spiegle dieses Dokument nicht die Haltung der COCOPA wider. Nachdem dieses Dokument von der EZLN akzeptiert worden war, erhob die Regierung zuerst 27 Einwände dagegen, die sich dann auf 4 reduzierten (welche angeblich 17 Seiten füllen, die aber nicht veröffentlicht wurden).
Die Mitglieder der COCOPA bestanden darauf, dass die Initiative zum Dialog nicht ihr Eigentum sei, sondern beiden Seiten gehöre, und dass sie juristisch sicher verbesserungsfähig sei. Sie schlossen aus, dass es einen Konflikt zwischen der Legislative und der Exekutive aufgrund dieser Einwände gebe, sondern erklärten, dass es ein Konflikt zwischen der Bundesregierung und der EZLN sei. Sie wiederholten, dass es die Aufgabe der COCOPA sei, eine Annäherung zwischen den beiden Seiten zu erzielen.
 
Aus diesem Grund habe die COCOPA kürzlich den jüngsten Vorschlag der Regierung der EZLN über die CONAI zukommen lassen. Am Tag, als dieses Interview stattfand, war die Position der EZLN zu diesem Thema noch nicht bekannt. Die Mitglieder der COCOPA wollten uns aber darüber informieren, dass es ihrer Meinung nach in diesem Moment vollkommen unangebracht wäre, eine unnachgiebige Haltung einzunehmen. Ausserdem könne die COCOPA nichts tun, solange sich die EZLN nicht wieder an den Verhandlungstisch setze. Zwei Repräsentanten der PRI beharrten darauf, dass die EZLN ja noch nicht einmal ihre Kriegserklärung an die Bundesregierung zurückgezogen habe.
 
Die COCOPA bestand darauf, dass es sowieso keinen Sinn hätte, jetzt auf eigene Faust eine Reforminitiative vor den Kongress zu bringen, sei es als COCOPA oder als Repräsentanten der Legislative, weil es keinen Konsens zum Thema indigene Rechte im Land gäbe. Es wurde jedoch nicht weiter ausgeführt, wie so ein Konsens zu erreichen wäre. Die Mitglieder der Kommission drückten ihr Erstaunen über die Tatsache aus, dass die wertvolle Arbeit der COCOPA nicht auf die Art und Weise aufgenommen wurde, wie es ihr gebührt hätte, sowie darüber, dass es nicht möglich gewesen war, einen zügigen Reformprozess in Gang zu setzen, obwohl in der COCOPA sowohl die Legislative, als auch die verschiedenen Parteien des Kongress vertreten sind. Die Antwort darauf lautete, in Mexiko existiere kein konsolidiertes Parteiensystem, welches einen solchen Prozess ermöglichen würde und die COCOPA habe keinen Einfluss auf die Parteien, genau so wenig wie umgekehrt.
 
Der PRD-Senator Gilberto López y Rivas stellte fest, dass das Land sich in einem ganz besonderen historischen Moment befinde. Noch nie habe es ein solches Ausmass an Militarisierung und Paramilitarisierung gegeben, zumindest nicht seit den sechziger und siebziger Jahren. Ausserdem gebe es heute politische Gefangene und es herrsche, den Definitionen einiger Leute zufolge, eine Art schmutziger Krieg. Man stünde heute vor der Alternative eines friedlichen Übergangs oder des Scheiterns desselben und man müsse sich fragen, wie die Rolle der Armee in einer Demokratie wie der Mexikos zu definieren sei. Er verwies an dieser Stelle auf den spanischen Staat, wo es Mörder bis in höchste Regierungskreise hinein gegeben habe.
Er bestand darauf, dass die COCOPA in keinem Falle den Eindruck erwecken dürfe, einer der beiden Parteien näher zu stehen, weil sie dadurch Gefahr liefe, ihre Legitimation gegenüber der Gesellschaft zu verlieren. Als Beispiel führte er den Innenminister an, der die paramilitärischen Gruppen der EZLN gleichstellen wollte, indem er diese als eine bewaffnete Gruppierung definieren wollte. Für die COCOPA hingegen sei klar, dass man die EZLN nicht mit den paramilitärischen Gruppen vergleichen könne, denn die erstere sei im Gesetz für Eintracht und Befriedung und durch die Vereinbarungen von San Andrés als Gesprächspartnerin legitimiert worden. Aus diesen Gründen habe die COCOPA an diesem Punkt nicht nachgegeben und das Innenministerium habe schliesslich die Existenz von paramilitärischen Gruppierungen eingestanden.
Innerhalb der COCOPA sei es auch zum Konsens über folgende wichtigen Punkte gekommen: die Armee müsse sich aus den Dörfern zurückziehen; das in Chiapas stationierte Kontingent müsse reduziert werden; die Vertriebenen dürften nur von Institutionen wie dem Internationalen Roten Kreuz oder Menschenrechtsorganisationen Hilfe erhalten und nicht von Parteien oder Regierungsorganismen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf ein Dokument zur Entspannung der Lage, das zusammen mit der CONAI ausgearbeitet worden ist und das am 22.1. dieses Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Dokument enthält 10 Punkte, welche von beiden Vermittlerorganisationen als notwendige Bedingungen für eine Wiederaufnahme des Dialogs genannt werden. Aus Zeitmangel konnte jedoch nicht mit den Vertretern der COCOPA darüber gesprochen werden, welche Anstrengungen die COCOPA zu unternehmen gedenke, damit diese 10 Punkte tatsächlich auch umgesetzt werden.
 
Bei mehreren Gelegenheiten betonten die Mitglieder der COCOPA die Wichtigkeit der Internationalen Beobachtungskommission für Menschenrechte. Gleichzeitig gaben einige der Repräsentanten zu verstehen, dass sie die Lösung des Problems für eine Aufgabe der Mexikaner hielten. Die Möglichkeit einer UNO-Intervention, welche in letzter Zeit öfters in den Medien erwähnt wurde, wiesen diese COCOPA-Vertreter energisch zurück. Sie erklärten, dass Mexiko eine sehr besondere Geschichte habe, in der Interventionen durch andere Staaten keine Seltenheit waren und dass man deshalb die heutige Sorge um eine interne Lösung des Problems verstehen müsse. Zudem sei der Nationalismus in Mexiko in keinem Moment mit Fremdenfeindlichkeit zu verwechseln, denn Mexiko habe schon immer eine offene Haltung gegenüber AusländerInnen gehabt.
 
Die Zukunft der COCOPA hänge von der Entwicklung des Konflikts ab, erklärten sie. Nach dem Massaker von Acteal habe die Bedeutung der COCOPA als unterstützende Instanz zugenommen, und sie möchte weiterhin die Aufgabe der Annäherung der beiden Parteien erfüllen. Einige der Mitglieder drückten jedoch Unsicherheiten in Bezug auf die Zukunft aus.
Über die Rolle des neuen Generalkoordinators für den Dialog, Emilio Rabasa Gamboa, erklärten sie, dass seine Berufung nichts an der Funktion der COCOPA ändere. Genauso wenig dürfe man die Rolle der COCOPA, welche eine unterstützende sei, mit derjenigen der CONAI, die Vermittlerin ist, verwechseln.
 
Wir vereinbarten mit der COCOPA ihr, wie allen anderen interviewten Institutionen auch, ein Exemplar des Berichtes zu überreichen, den wir von unserer Reise anfertigen werden. Zum Schluss übergab uns die COCOPA folgende wichtigen Dokumente:
 
- Gemeinsame Stellungnahme mit der CONAI zur Wiederaufnahme des Dialogs
 
- Das Gesetz zur Befriedung und Eintracht, für einen gerechten und würdigen Frieden in Chiapas.
 
- Gesetzesinitiative für eine Verfassungsreform, ausgearbeitet von der COCOPA.
 
Am Ende des Gesprächs, als sich die KommissionsteilnehmerInnen schon verabschiedeten, wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass unerwarteterweise eine Gruppe von 12 Choles-Indianern aufgetaucht sei, die sich mit uns zu treffen wünschten. Wir erklärten, dass wir kein Mandat hätten, um mit anderen als der COCOPA zusammenzukommen, aber wir würden sie natürlich aufsuchen, um zu sehen, worum es ginge.
Daraufhin führten sie uns ins angrenzende Zimmer, wo uns die erwähnte Gruppe ein Pressekommuniqué und ein Dokument mit dem Titel "Weder Rechte noch Menschen" überreichten. Das Dokument war vom November 1997 datiert und stellte die Antwort der Gruppe "Desarollo, Paz y Justicia" auf den Bericht des Zentrums Fray Bartolomé de las Casas über die Situation im Norden von Chiapas dar. Wir bedankten uns für die überreichten Dokumente und hinterliessen ihnen die Telefonnummer des Sekretariats unserer Kommission. Auch wir erhielten von ihnen eine Telefonnummer, damit wir einen späteren Termin mit ihnen festlegen könnten. Wir erläuterten ihnen die Ausschliesslichkeit unseres Mandats und verabschiedeten uns.
 
 
 
III.2. GESPRÄCH MIT DEM KOORDINATOR FÜR DEN DIALOG EMILIO RABASA
 
Am Dienstag, dem 17.Februar, traf sich eine Delegation der internationalen BeobachterInnenkommission für Menschenrechte mit dem Regierungsvertreter für den Dialog in Chiapas, Emilio Rabasa. An dem Gespräch nahmen auch José Narro, Ministerialdirektor des Gesundheitsministerium und Eduardo Ibarrola, stellvertretender Bundesstaatsanwalt teil.
 
Rabasa machte ausführliche Erklärungen über den Stand der Verhandlungen und über die Linie der Regierung im Dialog mit der EZLN. Er erwähnte dabei die Rede des Präsidenten Zedillo in Yucatan und erklärte dazu, dass die mexikanische Regierung weiterhin den Weg der Verhandlung und des Dialogs suche.
Er führte an, dass es keinen Zweifel an der juristischen Gültigkeit der Abkommen von San Andrés gebe, die er als Novum in der Rechtsgeschichte Mexikos einstufte. Aus diesem Grunde sei die Regierung vollkommen bereit, die unterzeichneten Vereinbarungen zu erfüllen. Seiner Meinung nach liegt das Problem mehr im Vorschlag für die Verfassungsreform, den die COCOPA auf Grundlage der Vereinbarungen von San Andrés ausgearbeitet und gegen den die Regierung 27 Einwände vorgebracht hat.
 
Diese "Einwände" hatten zur Folge, dass sich die EZLN vom Dialog zurückzog, was nach Meinung Rabasas gegen die Vereinbarungen von San Miguel, welche die Voraussetzungen für den Dialog in San Andrés bildeten, verstiess. Er fügte dem Gesagten Kopien dieser Vereinbarungen hinzu, wo man nachlesen könne, dass sich keine der Parteien aus eigener Entscheidung vom Dialog zurückziehen darf.
 
An diesem Punkt kam man auf das Massaker von Acteal zu sprechen, das nach Meinung Rabasas die "Komplexität des Problems" beweise. Nachdem er die Bezeichnung "paramilitärische Gruppen" für die Verantwortlichen dieses Massakers zurückwies, gab er seine Interpretation der Konflikte innerhalb der Gemeinden. Er schloss mit dem Hinweis auf die Geschehnisse in Ocosingo (wo während einer Demonstration eine Frau von der Polizei erschossen und zwei weitere Personen verletzt wurden, A.d.Ü.), die ihrerseits die schlechte Organisation der Landespolizei des Staates Chiapas, der Seguridad Publica, bewiesen. Er bestätigte, dass die Regierung aufgrund dieser Ereignisse eine "neue Strategie" ergriffen habe, die drei Punkte umfassen würde:
 
1. Sicherheitsplan: staatliche Untersuchung über Acteal, Reorganisierung der führungslosen chiapanekischen Landespolizei; Einrichtung eines Büros der Staatlichen Menschenrechtskommission im Gebiet, Befreiung der Sympathisanten der EZLN (von 300 Freigelassenen seien 48 solche), alles in allem: Wiederherstellung des Rechtsstaates in Chiapas.
 
2.Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der EZLN: Obwohl die Unterbrechung des Dialogs aus Sicht der Regierung nicht gerechtfertigt war, seien die 27 Einwände auf 4 reduziert worden, welche nach Meinung Rabasas keinen Einfluss auf die Vereinbarungen von San Andrés hätten, sondern sich auf die erwähnte Initiative der COCOPA beziehen würden. Als Beispiel erwähnte er einen Artikel über das Kollektiveigentum von Boden und erklärte, dass dieser Artikel gegen die Rechte anderer Volksgruppen verstosse, die den Boden privat oder als Gemeindeeigentum besitzen. Aus diesem Grund sei der Artikel zu modifizieren.
All diese Beobachtungen seien der EZLN übermittelt worden. Rabasa gab an, dass die Regierung, die abstreitet, je ein geheimes Treffen mit der EZLN beantragt zu haben, die 10 Vorbedingungen der COCOPA und CONAI zur Wiederaufnahme des Dialogs akzeptiere. Er erklärte auch, dass die Präsenz der Bundesarmee in Chiapas nichts mit dem Konflikt zu tun hätte, sondern vielmehr damit, dass der südöstlichste mexikanische Bundesstaat ein Grenzstaat mit strategisch wichtigen Bodenschätzen sei, welcher der Gefahr des Drogenhandels ausgesetzt sei. Auf jeden Fall sei die Regierung bereit, den Umfang des Militärdispositivs erneut zu überdenken, wenn die EZLN, bei einer Wiederaufnahme des Dialogs, bereit sei, ähnlich geartete Zugeständnisse zu machen, d.h. auf die autonomen Bezirke und auf die illegale Steuererhebung in denselben zu verzichten.
 
3. Entschädigungen für die Familienangehörigen der Opfer von Acteal und Initiieren eines Programms für die Vertriebenen, ungeachtet deren politischer Haltung.
 
Der Ministerialdirektor für Gesundheit, José Narro, beschrieb die Schwierigkeit der medizinischen Versorgung in einem Staat mit 20.000 Ortschaften, von denen der grösste Teil weniger als 300 EinwohnerInnen hat. 11 % der 2,3 Millionen EinwohnerInnen Chiapas könnten kein Spanisch und lebten ohne jegliche medizinische Versorgung. Was die Vertriebenen betrifft, wiederholte er, dass die Regierung keine Unterschiede mache, und dass sie nur dort nicht hingelangt wäre, wo es aufgrund der Entscheidungen der Führer der Gemeinden nicht möglich gewesen sei.
 
Eduardo Ibarrola überreichte der Kommission einen "provisorischen Bericht" der Untersuchung über das Massaker in Acteal, bei dem es laut dem Generalstaatsanwalt keinerlei Toleranz in Bezug auf Straffreiheit, egal auf welchem Niveau, geben soll. Er erklärte, dass die Untersuchungen aufgrund der Zeit, die zwischen dem Massaker und dem Beginn der Ermittlungen, verstrichen war, alles andere als einfach seien. Die lokalen Autoritäten hätten nicht dafür gesorgt, dass der Ort des Blutbades unverändert bliebe, sondern hätten die Leichen auf einen Haufen geworfen. Trotzdem hätte die Staatsanwaltschaft feststellen können, dass fast alle Opfer durch Feuerwaffen getötet worden waren.
Bis zu diesem Tag sei es zu 67 Verhaftungen gekommen, mit Anklagen wegen Mordes, krimineller Vereinigung und Schusswaffengebrauchs. Unter den Verhafteten befänden sich der lokale Polizeichef, fünf Polizisten und drei Minderjährige. Die Ermittler hätten 400 ZeugInnenaussagen gesammelt, "die nicht auf Spanisch gemacht wurden und deren Übersetzung Zeit und Geld kostet". Ausserdem sei eines der Probleme gewesen, dass "einige AusländerInnen" den ZeugInnen eine Liste mit Personen übergeben und sie instruiert hätten, diese zu denunzieren.
Die Hauptverantwortlichen des Massakers seien von einem Greis, dessen Sohn von SympathisantInnen der ZapatistInnen ermordet worden sei, organisiert worden. Dieser Umstand sei ein Teil des Konflikts gewesen, der vor eineinhalb Jahren seinen Anfang genommen hätte. Ibarrola erklärte zudem, dass die Täter sich eigenmächtig als Priisten ausgegeben hätten, denn es verstehe sich von selbst, "dass eine organisierte Partei nicht ein Massaker befehlen könne".
 
Rabasa konnte den offensichtlichen Widerspruch nicht erklären, dass eine Initiative für eine Gesetzesveränderung, welche von einer Kommission ausgearbeitet wurde, in der alle Parteien, auch die PRI, vertreten sind, von der Regierung, die von der PRI gestellt ist, zurückgewiesen wurde. Eine andere Frage betraf seine Bezeichnung Koordinator für den Dialog, während sein Vorgänger im Amt Beauftragter genannt wurde. Rabasa erklärte dazu, dass seine Arbeit auch die Koordination der Bemühungen verschiedener Behörden beinhalte. Er wurde daraufhin gefragt, ob ihm auch die Koordination mit der SEDENA obliege und wenn ja, warum der Verteidigungsminister, General Cervantes Aguirre erklären konnte - ohne dass es von einer anderen amtlichen Stelle dementiert worden wäre - dass die Armee in Chiapas sei, um die Durchsetzung des Gesetzes über Feuerwaffen und Sprengstoff zu garantieren, was sich sowohl auf paramilitärische Gruppen als auch auf EZLN beziehen würde. Dies stellt ein Verstoss gegen Gesetz über die Eintracht und Befriedung, das laut COCOPA dem Gesetz über Feuerwaffen und Sprengstoffe übergeordnet ist und das die Regierung zu respektieren behauptet. Die Antwort von Rabasa war, dass es erstens Beweise für die Existenz von "bewaffneten zivilen" Zapatisten gebe, die von den "regulären Truppen" der EZLN zu unterscheiden seien und dass zweitens die Vereinbarungen von San Miguel - die übrigens von der EZLN nicht eingehalten werden würden - den Zapatisten keine Straflosigkeit garantieren würden, sondern nur ihre freie Durchfahrt zum Verhandlungsort. Die weitergefasste Interpretation sei eine Konzession der Regierung gewesen. Abschliessender Kommentar war, dass es "zwei simultane Gesetze" gebe und dass man sich in einer "zweideutigen Situation" befinde.
 
 
 
III.3. GESPRÄCH MIT DER MINISTERIN FÜR AUSWÄRTIGE ANGELEGENHEITEN, ROSARIO GREEN
 
Das Gespräch fand am 24. Februar 1998 in Mexiko-City statt. Wie schon in den anderen Interviews mit RepräsentantInnen der mexikanischen Institutionen wurde auch diese Gesprächspartnerin zunächst um eine persönliche Stellungnahme zur Lage des Konflikts im Bundesstaat Chiapas und um ihre Einschätzung der Menschenrechtssituation in Mexiko gebeten. Es folgt eine Transkription der wichtigsten Punkte ihrer Ausführungen und des darauffolgenden Gesprächs.
 
Fr. Green, unter Salinas Vertrerin der mexikanischen Regierung an der UN, erklärte, dass die Situation in Chiapas schon immer komplex und kompliziert gewesen sei. ("Sie haben dies während Ihres Besuchs sicher feststellen können"). Daran schuld sei die Isolation und die historische Rückständigkeit dieser Gegend. Gleichzeitig stellte sie klar, dass sie auf keinen Fall mit dem Weg der Gewalt einverstanden sei.
 
Sie versicherte, dass man seit 1996, seit Beginn der Verhandlungen um die Staatsreform, grosse Fortschritte bei der Demokratisierung aller Lebensbereiche erzielt habe. Dies sei nicht zuletzt dem Demokratisierungswillen der Regierung zuzuschreiben. Als Beispiel dafür erwähnte sie die Wahlreform, deren Erfolg sich bei den Wahlen 1997 gefestigt habe. Für Green ist Demokratie gleichbedeutend mit der Respektierung der Wahlergebnisse.
 
Sie behauptete, dass seit dem vergangenen Jahr eine Verbesserung der Wirtschaftslage in Mexiko zu beobachten gewesen sei, und betonte die Notwendigkeit eines "kompakten und vereinten" Nationalstaats. Sie unterstrich die Bedeutung der Aufgabe des Nationalstaates und seiner Rolle, die er in der Aktualität spiele. Zugleich wies sie die Autonomiebestrebungen mit der Begründung zurück, diese gefährdeten die nationale Souveränität.
 
Über das Massaker von Acteal, sagte sie aus, dass es sich um ein Zusammenstoss zwischen zwei (nicht näher von ihrbeschriebenen) Gruppen gehandelt habe. Sie erwähnte dann die Lösungswege, welche die Regierung in Angriff genommen habe: Erstens der juristische Weg über die PGR, um der Rechtlosigkeit ein Ende zu machen. Es befänden sich über 60 in das Geschehen verwickelte Personen im Gefängnis und die Suche nach Verantwortlichen gehe weiter. Zweitens der friedliche Weg über Verhandlungen, der auch dazu führen soll, die verschiedenen bewaffneten Gruppen zur Abgabe der Waffen zu bringen. Sie bemerkte zu diesem Thema, dass es ihr schwerfalle, in diesem Zusammenhang die Bezeichnung "paramilitärische Gruppen" zu gebrauchen, da dies ja auf eine Verbindung mit der Bundesarmee verweise, welche jedoch in keinem Falle gegeben sei. Ihrer Meinung nach garantiert die Armee den Friedensprozess. Der dritte Weg, die humanitäre Hilfe, zeige sich in der Betreuung durch das Mexikanische Rote Kreuz und in der Unterstützung durch die staatliche Menschenrechtskommission. Ausserdem würden im Gebiet von Acteal grosse Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen (ethnisch, religiös, in Sachen Eigentum und Machtbefugnisse) unternommen.
 
In Mexiko gebe es Bewegungsfreiheit und Kanäle zur freien Meinungsäusserung. Der Informationsfluss sei gewährleistet, wie auch die Transparenz. Über die Folter würde heute öffentlich debattiert, wobei sie hinzufügte, dass dieses Thema nicht zu den am häufigsten registrierten Anzeigen der staatlichen Menschenrechtskommission gehöre.
 
Rosario Green griff zu einem Sprichwort, um die Verwaltungslogik der von ihr präsidierten Behörde zu umschreiben: "Man darf nicht gute Dinge tun, die schlecht erscheinen."
 
Zur fremdenfeindlichen Kampagne, die in den vorangegangenen Wochen ausgelöst worden war, meinte sie, dass diese ein Produkt der Medien sei, die ja nicht mehr nur Nachrichten verbreiten, sondern sie auch schaffen. Sie glaube nicht, dass es in Mexiko Fremdenfeindlichkeit gebe, auch wenn sicherlich Personen, Gruppen oder Sektoren existierten, die sich über die AusländerInnen beschweren würden. Sie schloss die Möglichkeit einer gezielten Kampagne aus und rief die internationalen ONG's dazu auf, den gesetzlichen Rahmen in Mexiko zu respektieren.
 
Bezüglich der von den Vertriebenen und der CONAI gestellten Forderung nach der Präsenz des Internationalen Roten Kreuzes in den betroffenen Gebieten erklärte sie, dass diese nicht nötig sei, da ja die humanitäre Hilfe durch die Anwesenheit des Mexikanischen Roten Kreuzes und der staatlichen Menschenrechtskommission gewährleistet sei. Auf die Frage nach den Beziehungen zwischen dem Mexikanischen Roten Kreuz und der Regierung äusserte sie sich dahingehend, dass es eine vollkommen normale Beziehung zwischen einer ONG und der Regierung sei.
 
Eine weitere Frage betraf das nicht zustandegekommene Treffen zwischen Zedillo und dem Präsidenten von Amnesty International, Pierre Sané. Laut ihrer Aussage hatte dies mit Kommunikations- und Koordinationsproblemen zu tun gehabt.
 
Über die ONG's sagte sie: "Ich denke, dass sie dazu berufen sind, eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Sie haben zweifellos eine internationale Bedeutung. Es scheint mir auch sehr wichtig, dass sowohl die national als auch die international agierenden ONG's sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen, um nicht das Ansehen der ONG's aufs Spiel zu setzen. Den gesetzlichen Rahmen zu übertreten und anzunehmen, dass gewisse Umstände die Übertretung der Gesetze rechtfertige, ist sehr gefährlich, denn langfristig wird dadurch ein falsches Bild der ONG's aufgebaut."
 
Sie betonte, dass allein die Tatsache, dass Mexiko am 8.12. 97 ein Rahmenabkommen mit der EU unterschrieben habe, welches eine Klausel zur Demokratie und zu den Menschenrechten enthält, schon darauf hinweise, dass die Regierung bereit sei, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Sie habe mit RepräsentantInnen der EU über die Konsolidierung der demokratischen Institutionen und auch über das Thema der Menschenrechte gesprochen.
 
In Bezug auf eine mögliche internationale Vermittlung im Konflikt in Chiapas, meinte sie, dass dies Sache der MexikanerInnen sei und dass die Bedingungen für eine interne Lösung gegeben seien, womit sie jegliche Massnahmen dieser Art ausschloss.
 
Zur aktuellen Stagnation im Prozess des Dialogs behauptete sie, dass die EZLN nicht bereit sei, den Dialog wiederaufzunehmen, da sie gemerkt habe, dass der internationale Druck ihr zugute komme. In diesem Zusammenhang führte sie an, dass es ihres Wissens nach der einzige Fall sei, in dem eine Regierung mit einer vermummten Guerilla verhandelt habe. Ausserdem habe sich die EZLN geweigert, sich als eine politische Partei zu konstituieren, obwohl dies das Ergebnis der von ihr durchgeführten Befragung 1996 gewesen sei. Abschliessend unterstrich sie die grossen Anstrengungen, welche die Regierung unternommen habe, als sie ihre Einwände zur Initiative der COCOPA von 27 auf 4 verringerte. Dies sei der Beweis für die Verhandlungsbereitschaft der Regierung.
 
 
III.4. INTERVIEW MIT DEM BUNDESSTAATSANWALT JORGE MADARAZO CUELLAR
 
Das Gespräch wurde am 25. Februar 1998 im Gebäude der Bundesstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt geführt. Neben dem Bundesstaatsanwalt nahm auch sein Stellvertreter, Hr. Eduardo Ibarrola, daran teil.
 
J. Madrazo erklärte zu Beginn des Gespräches, dass er Mitglied der Mexikanischen Akademie der Menschenrechte ist. Zuvor sei er Beauftragter für den Frieden in Chiapas und Verantwortlicher für die CNDH (Nationale Menschenrechtskommission) gewesen.
 
In Bezug auf den Stand der Ermittlungen zum Massaker von Acteal wies er darauf hin, dass nun die Bundesstaatsanwaltschaft (PGR) damit beauftragt sei. Dies sei aufgrund der Entscheidung von Präsident Zedillo erfolgt, nachdem ursprünglich nur die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Chiapas dafür zuständig gewesen sei. Entscheidend für die Ausdehnung der Ermittlungen sei der Gebrauch von schweren Waffen gewesen.
 
Aus dem provisorischen Bericht des Staatsanwaltes über das Massaker von Acteal seien vor allem die "schwerwiegenden Fehler" seitens der lokalen Polizeikräfte hervorzuheben; dies gelte einerseits für die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber Hinweisen auf den Vorfall (das Massaker begann um 11 Uhr vormittags am 22.12.97, die Polizei traf erst um vier Uhr morgens am nächsten Tag am Tatort ein), andererseits für die ersten Ermittlungstätigkeiten vor Ort, bei denen 45 Leichen innerhalb von nur zwei Stunden geborgen wurden, während normalerweise für eine Leiche eine Stunde berechnet werde.
 
In der Folge seien ziemlich rasch 69 Personen verhaftet worden, wovon 56 im Gefängnis sitzen würden, darunter auch der damalige Bürgermeister von Chenalhó. Sechs der Angeklagten seien Mitglieder der Landespolizei. Die Verhafteten seien unter anderem des Totschlags, der unterlassenen Hilfeleistung und der Waffenbeschaffung angeklagt. In diesem Zusammenhang erklärte er: "Wir wissen, dass die polizeilichen Verantwortlichen sich während der Vorfälle in der unmittelbaren Umgebung von Acteal aufgehalten hatten und trotzdem nicht eingriffen". Als am 22. Dezember die Polizei angefragt wurde, ob etwas Besonderes vorgefallen sei, habe sie dies verneint.
 
Es gebe bisher fünf Geständnisse, die 30 der 60 Verhafteten in den Fall verwickeln würden. Gegenwärtige würde 30 weitere Ermittlungen geführt, die in Kürze zur Ausstellung der entsprechenden Haftbefehle führen würden.
 
Die ohnehin schon komplizierten Ermittlungen würden durch die Existenz falscher ZeugInnenaussagen und durch die Schwierigkeiten bei den Ermittlungen vor Ort erschwert: Die BewohnerInnen hätten die Zugänge zu ihren Gemeinschaften verbarrikadiert und wenn ein Mitglied der Staatsanwaltschaft auftauche, würden sie sich verstecken. In Bezug auf den Wahrheitsgehalt gewisser ZeugInnenaussagen bestehe die Gewissheit, dass Angehörige der Cardenistischen Partei (eine von der PRI unterstützte Splitterpartei, A.d.Ü.) Falschaussagen gemacht hätten.
 
Die Motive für das Massaker seien eine "Mischung aus politischen, wirtschaftlichen, ethnischen und religiösen Interessen". Konkret führt er zwei Hypothesen an: die Möglichkeit, dass es sich um einen Racheakt handeln könne, der vom Vater einer am Tag zuvor ermordeten Person organisiert wurde und der das Ergebnis eines langjährigen Zwists um eine Sandbank gewesen sein könnte, der sich im April 1996 mit der Gründung der autonomen Gemeinde von Polhó verschärft habe.
 
Er besteht darauf, dass die angespannte Lage zwischen den Gemeinschaften die Vorfälle erklären würde und dass es vor Acteal 47 nicht ermittelte Verbrechen gegeben habe, die nun von der Bundesstaatsanwaltschaft untersucht würden. In diesem Klima habe es Antworten "von der einen und von der anderen Seite" gegeben. Es handele sich um Spannungen und Konflikte, die sich seit 1994 verschärft hätten, und die Bevölkerung teile sich in SympatisantInnen der EZLN oder der PRD und in "selbsternannte" Angehörige der PRI. Er warnt davor, das Blutbad von Acteal "aus westlicher Perspektive beurteilen zu wollen", was sich als schwierig erweise in einer Gegend, "in der die traditionellen Umgangsformen sehr unterschiedlich sind (...) Ihre Mentalität ist schwer zu verstehen. Sie nehmen die Justiz in ihre eigenen Hände."
 
Nachdem er erneut die angespannte Lage zwischen den Gemeinschaften hervorgehoben hat, weist Hr. Madrazo darauf hin, dass Ermittlungen über "bewaffnete Gruppen" eingeleitet worden seien. Er spricht dabei von 12 Gruppen ("beider Seiten") in Chiapas. In diesem Zusammenhang würde auch der Waffenhandel untersucht, der "ganz sicher aus den Restbeständen der lateinamerikanischen Guerilla stammt".
 
In Kürze würde ein Sonderstaatsanwalt für die Vorfälle in Chenalhó eingesetzt und drei Dienststellen der Staatsanwaltschaft an konfliktreichen Orten von Chiapas (Ocosingo, Chenaló-Pantelhó und Zona Norte) eingerichtet werden.
Abschliessend erinnert er daran, dass die Mischung aus Rechtlosigkeit und Rache die beiden Faktoren seien, die Acteal erklären. In den nächsten 14 Tagen würden die Ermittlungen schon sehr weit fortgeschritten sein, man dürfe aber nichts überstürzen: "Ich würde sie auch gerne alle im Gefängnis sehen, wir dürfen aber keinen Konflikt in der Gemeinde Chenalhó erzeugen."
 
Auf die Frage von Seiten der internationalen Menschenrechts-Kommission, was genau am 23. Dezember zwischen vier und sechs Uhr morgens in Acteal geschehen sei, schildert Madrazo folgendes:
 
"Die "Straftat" geschah am 22. Dezember um 11 Uhr morgens. Wir wissen, dass die meisten Morde um diese Zeit erfolgt sein müssen, obwohl einige ZeugInnen versichern, während fünf Stunden Schüsse gehört zu haben. Gegen Mittag informierte der Vikar Gonzalo Ituarte das Sekretariat der Regierung, er verfüge über "einige Informationen über gewisse Unruhen", worauf ihm geantwortet wird:"Ich weiss nicht recht, ich werde eine Untersuchung anordnen." Er kontaktiert daraufhin die lokale Polizei, diese entgegnet, es sei nichts los, es gebe nichts Neues. Mit den widersprüchlichen Aussagen konfrontiert, beharrt der Vikar darauf und erreicht, dass der Koordinator des Landespolizei, ein Unterstaatsanwalt für indigene Rechte und ein Mitglied der Landesregierung sich nach Acteal begeben, um die Vorfälle zu überprüfen. Doktor Najera vom mexikanischen Roten Kreuz erzählt ihnen, dass am vergangenen Abend, als er sich am Tatort befand, eine Gruppe von Personen die Gemeinschaft "Las Abejas" vor der Gefahr eines paramilitärischen Überfalls gewarnt habe. Als Reaktion rief der Sprecher des Ortes, ein Katechist, die Leute auf, sich zum Gebet zusammenzufinden. Najera versichert, bereits morgens um halb elf Uhr des nächsten Tages vereinzelte Schüsse gehört zu haben, mindestens sieben. Man habe ihm gesagt: "Sie können nicht hierbleiben, wir können nicht für Ihr Leben garantieren." Er ging darauf nach Pantelhó, von wo aus er einen Bericht an seine Vorgesetzten sandte - dieser erreichte seltsamerweise nie die Behörden von Chiapas. Schliesslich ist es Najera selber, der die Autoritäten nach Acteal führt. Um vier Uhr morgens, im Dunkel der Nacht, werden einige schlechte Fotos gemacht und sofort werden die Leichen auf Lastwagen geladen, die gegen sechs Uhr nach Tuxtla Gurtiérrez aufbrechen sollen. Es muss betont, dass dafür nicht die Bundesbehörden, sondern die oben genannten Mitglieder der Landesbehörde verantwortlich sind."
 
Auf die Frage, wie eine persönliche Rache mit dem im amtlichen Bericht anerkannten grossen Aufgebot an Personen, Vorbereitungen, Waffen und dem Terror zu vereinbaren sei, der sich im Verbrechen von Acteal ausdrückt, und ob diese Umstände nicht eher auf das Werk einer zuvor ausgebildeten Gruppe hinweise, antwortet Madrazo:
 
"Meiner Meinung nach waren diese Personen nicht ausgebildet, denn wenn es wirklich so gewesen wäre, dann hätten sie nicht nur 45 ermordet, sondern die ganze Dorfgemeinschaft (rund 300 Personen). Die meisten Opfer sind ja Frauen und Kinder gewesen, die nicht schnell genug flüchten konnten."
 
Die Existenz eines Militärpostens in Majomut, von wo aus die Schüsse gehört worden sein sollen, verneint Madrazo ebenfalls. Ihm zufolge ist es genau aufgrund der Abwesenheit der Bundesarmee erst soweit gekommen.
 
 
 
 
 
 
 
III.5. INTERVIEW MIT DEM MENSCHENRECHTSZENTRUM FRAY BARTOLOME DE LAS CASAS
 
Am 18. und am 22. Februar führte eine Delegation der Kommission zwei Gespräche mit Pablo Romo, Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas
 
Als Einleitung gab Pablo Romo einen ausführlichen Situationsbericht zu den Menschenrechten in Chiapas. Im Anschluss daran schnitt er das Thema der Präsenz von AusländerInnen in den Konfliktgebieten an und zeigte mögliche Koordinationsachsen mit Menschenrechtsorganisationen in anderen Teilen der Welt auf.
 
Die Ausführungen Pablo Romos können wie folgt zusammengefasst werden:
 
Die systematische Verletzung der Menschenrechte weisen bestimmte Verhaltensmuster auf, welche von gewissen Sektoren der Obrigkeit gefördert werden. Dies gelte zum Beispiel für die Militarisierung und die Förderung der Machtkämpfe zwischen lokalen Gruppierungen. Davon betroffen seien Bevölkerungsteile, die nicht unmittelbar in den Konflikt involviert sind (Bei diesem Punkt weist er auf Ähnlichkeiten mit den bewaffneten und sozialen Konflikten im Guatemala der 80er Jahre hin).
 
In diesem Zusammenhang betont er, dass die Militärausgaben zum wichtigste Posten im Nationalen Haushalt geworden sind.
 
Diese Tatsache nähre den Verdacht, dass die Regierung eine militärische Lösung des Konflikts suche und sich nicht für einen friedlichen Ausgang auf der Ebene des Dialogs einsetze. Schon die Militäroffensive von 1995 habe auf diese Absicht hingewiesen. Wobei sowohl Zufallselemente (wie das Fehlschlagen der Gefangennahme der Führung der EZLN) als auch tagespolitische Faktoren (die ausgeprägte ökonomische Rezession und eine ausserordentliche Legitimitätskrise des Regimes) den Erfolg dieser Strategie vereitelten. Auch die breite Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene habe ihren Teil dazu beigetragen, die mit dem Aufbau ziviler Friedenscamps (Campamentos Civiles por la Paz) zusammenfiel, deren direkte Förderer das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé und die Diözese in San Cristóbal waren.
 
Angesichts der extrem spannungsgeladenen Situation im Konfliktgebiet nimmt das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé mittlerweile eine vorsichtigere Haltung bezüglich der direkten Einbeziehung der internationalen Zivilgesellschaft am Schauplatz ein. Diese explosive Lage sei ein Ergebnis der Verschärfung des Konfliktes in den letzten Monaten. Hauptsächliche Folge davon seien beträchtliche Rückschritt im Verhandlungsprozess.
 
Pablo Romo war zudem der Ansicht, dass der Konflikt in Chiapas interne Spaltungen in den höchsten Sphären der politischen Klasse aufgedeckt habe, welche sich in den Differenzen zwischen der Exekutive und dem Militär widerspiegeln. Ausgehend von dieser Analyse bemühe sich das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé, einen demokratischen Prozess in Gang zu setzen, der vor allem von der Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene weitergetragen werden müsste.
 
Hinsichtlich der Wirkung, die eine Infragestellung der wirtschaftlichen Abkommen haben könnte, welche die mexikanische Regierung mit verschiedenen internationalen Institutionen unterschrieben hat, erwägt das Zentrum Fray Bartolomé verschiedene Möglichkeiten, engere Verbindungen mit internationalen Menschenrechtsorganisationen zu knüpfen.
 
Allerdings habe das Zentrum Fray Bartolomé de las Casas nach den Anschuldigen aus gewissen Sektoren der mexikanischen Gesellschaft, welche die CONAI (und damit das Menschenrechtszentrum) beschuldigen, ihre Neutralitätspflicht verletzt zu haben, indem sie AusländerInnen zu Aufenthalten in den Konfliktgebieten ermutigte, für die Haltung entschieden, den nationalen AkteurInnen Priorität zu geben. Die internationale Zivilgesellschaft sei hingegen aufgefordert, von ihren jeweiligen Ländern aus und mit eigenen Kriterien, Strategien für Verbindungen mit der mexikanischen Zivilgesellschaft zu entwickeln.
 
 
III.6. AUSZÜGE AUS DEM INTERVIEW MIT DER LOKALEN KOMMISSION DER CNDH, 23.2.98, SAN CRISTOBAL DE LAS CASAS
 
Das Interview wurde mit Adolfo Hernandez Figueroa, dem Koordinator der staatlichen Menschenrechtskommission für die Altos und die Selva und seinen MitarbeiterInnen in den Räumlichkeiten der CNDH geführt.
 
Das Gespräch wurde mit dem Thema Acteal eröffnet. Für den Verantwortlichen der CNDH ist das Massaker Produkt von Streitereien und Zusammenstössen von bewaffneten Gruppen, deren Auslöser Unstimmigkeiten wegen einer Sandbank waren. Die politischen Differenzen zwischen PRI und PRD hätten die Situation noch verschärft. Im Fall Acteal akzeptieren sie Definitionen wie "Genozid" oder "Strategie zur Aufstandsbekämpfung" und bezeichnet den Fall als den grausamsten aller systematischen Menschenrechtsverletzungen in Chiapas.
 
Die CNDH nimmt an, dass Personen von "Paz y Justicia" bewaffnet sein und am Massaker teilgenommen haben könnten. Es wird jedoch zurückgewiesen, dass Paz y Justicia eine paramilitärische Gruppe sei.
 
Die CNDH zeichnet in einem Dreipunktevorschlag Wege zur Lösung des Konflikts auf:
 
-die Erfüllung der Abkommen von San Andres
-die Einrichtung der drei ausstehenden Verhandlungstische
-die Ausarbeitung von umfassenden Hilfsprogrammen für die indigenen Gemeinden.
 
Die CNDH erwägt die Möglichkeit, die Intervention von internationalen Organisationen zu beantragen. In diesem Zusammenhang wird das Internationale Komitee des Roten Kreuzes erwähnt, das in Chiapas nicht arbeiten kann, da die Regierung das Gebiet nicht als Konfliktzone anerkennt. Hr. Figueroa fügt hinzu, dass einige indigenen Gemeinden die Präsenz des mexikanischen Roten Kreuzes wegen seiner Verbindung mit der Regierung nicht akzeptieren.
 
Die CNDH streitet die Existenz von politischen Gefangenen ab. Hr. Hernandez Figueroa erklärt, dass alle Häftlinge gewöhnliche Straftaten begangen hätten und die Garantie eines Gerichtsverfahrens erhalten hätten. Er räumt jedoch ein, dass es dabei zu technischen Fehlern oder Unstimmigkeiten kommen kann.
 
Hr. Hernandez erklärt, dass die CNDH selten Klagen aus den zapatistischen Gebieten und den autonomen Bezirken erhält bzw. bearbeitet, weil sie von diesen als KollaborateurInnen der Regierung eingestuft werden.
 
Die CNDH bestätigt auch, keine Berichte zur Bildungs- und Gesundheitssituation erarbeitet zu haben, da diese Aufgabe schwierig zu lösen sei.
 
 
 
III.7. AUSZÜGE AUS DEM INTERVIEW MIT MIREILLE ROCATTI, PRÄSIDENTIN DER STAATLICHEN MENSCHENRECHTSKOMMISSION CNDH
 
Das Interview erfolgte am 26.2.98 im Sitz der CNDH in Mexiko City; anwesend waren: Frau Mireille Rocatti, vier Beamte, der Sekretär der CNDH, und sieben Mitglieder der Kommission
 
Arbeitsweise der CNDH
Die Kompetenz der CNDH liege auf nationaler Ebene und in jedem Bundesstaat gebe es eine lokale Kommission. Ausserdem würden wichtige lokale Fälle übernommen.
Die Hauptaufgabe bestehe darin, die Beschwerden der BürgerInnen entgegenzunehmen. Ausserdem habe die CNDH die Befugnis, auf Gesuch von einer der betroffenen Seiten, eine amtliche Untersuchung einzuleiten.
Die CNDH würde normalerweise keine humanitäre Hilfe leisten, obwohl sie das im Fall von Chiapas tue.
Die CNDH erhalte gegen 9000 Klagen jährlich und all diese würden untersucht. Der betroffenen Person werde ein amtliches Schreiben zugestellt, in dem sie informiert werde, was untersucht wird, wer der Anwalt und welche Instanz dafür verantwortlich sei.
 
Chiapas
Seit den 7. Januar 94 gebe es ein permanentes Büro in San Cristóbal, das direkt der Nationalen Kommission untersteht, um die Probleme der Indigenen und der Vertriebenen zu betreuen.
Das Büro koordiniere sich mit Caritas, mit dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé, Enlace Civil, dem mexikanischen Roten Kreuz und anderen lokalen Organisationen.
 
Militarisierung
Frau Rocatti erklärt, dass die EZLN am 1.1.94 der Regierung formal den Krieg erklärt habe und dass die Regierung darauf mit militärischer Aufrüstung in diesem Gebiet reagiert habe.
 
Der Verfassungsauslegung des Obersten Gerichtshofs zufolge sei die Tatsache, dass die mexikanische Armee innenpolitische Sicherheitsfunktionen übernimmt, verfassungsgemäss, da es keine Nationalgarde gebe. Andererseits sei die Militärpräsenz auch deshalb gerechtfertigt, da die Bevölkerung kein Vertrauen zur Landespolizei habe. Fr. Rocatti erklärt zwar gleichzeitig, dass diese Präsenz in sozialer Hinsicht einen schwerwiegenden Umstand darstellen würde, dass sie aber "die einzige Lösung ist, da die Bevölkerung gegenüber der staatlichen Polizei kein Vertrauen hat und eingeschüchtert und verunsichert ist".
 
Acteal
Sie erklärt, dass in Acteal vor dem Blutbad keine Militärs stationiert waren, dass es aber Posten der Landespolizei gegeben habe.
 
Die CNDH sei nach dem Blutbad als erste in Acteal eingetroffen: "Wir kamen und nahmen die Beweise auf, denn die Lokal-Behörden hatten weder den Tatort unberührt gelassen noch Beweise aufgenommen. Wir nahmen dann die ZeugInnenaussagen zu Protokoll."
 
Ausserdem sei von ihnen ein audiometrisches Gutachten in Auftrag gegeben worden, um festzustellen, ob die Polizeidienststelle in Majomut die Schüsse gehört haben musste. Das Ergebnis sei positiv ausgefallen und die Ergebnisse der Untersuchungen seien an die Staatsanwaltschaft weitergegeben worden.
 
Politische Gefangene, Folter und Straflosigkeit
Was das Thema der Folter seitens der Polizei und des Militärs betrifft, sei die Zahl der Fälle rückläufig. Die Folter werde zwar nicht systematisch angewandt, aber es gebe sie.
 
Auf die Frage, ob es viele Fälle gebe, bei denen die Anwender der Folter nicht bestraft wurden, sagt sie, dass "es zu technischen Fehlern bei der Ermittlungen kommen kann oder es nicht genügend Beweise für eine Verurteilung gibt. Wir wissen, dass es Fehler in unserem Rechtssystem gibt. Es gibt Straflosigkeit in diesen Fällen".
 
Was die Situation im Gefängnis Cerro Hueco (bei Tuxtla Gutierrez, Chiapas) betrifft, gebe es dort keine Gefangenen ohne Urteil. Sie räumt ein, dass es möglicherweise den ein oder anderen politischen Gefangenen im Land gebe und dass Mängel im gesamten Strafsystem des Landes existierten, nicht nur in Cerro Hueco.
 
Die Abkommen von San Andrés
Laut ihrer Meinung wurden die Friedensverhandlungen infolge der Gesetzes-Initiative der COCOPA zur Autonomie unterbrochen, da diese nicht mit der nationalen Souveränität vereinbar sei. Ihrer Ansicht nach müssen die Abkommen über eine Neudefinition der Gemeinden und Bezirke vorangetrieben werden. Dies würde jedoch dadurch verhindert, dass die chiapanekischen Abgeordneten nicht in die von der EZLN kontrollierten Gebiete vordringen könnten, um entsprechenden Befragungen bei der Bevölkerung durchzuführen.
Sie fügt hinzu, dass ein stärkerer politischer Wille wünschenswert sei und dass diese Befragungen erlaubt werden sollten.
III.8. INTERVIEW MIT BISCHOF SAMUEL RUIZ GARCIA, DEM VORSITZENDEN DER NATIONALEN VERMITTLUNGSKOMMISSION,- CONAI
 
Das Gespräch erfolgte am 27. Februar 1998 in San Cristóbal de las Casas in den Amtsräumen des Bischofs.
 
Nach der Vorstellungsrunde erklären die BeobachterInnen den Zweck der Kommission und informieren über die bis anhin geleistete Arbeit. Der Bischof weist darauf hin, dass sie keine einheitliche Sicht der Situation erhalten würden und erklärt, dass seitens der politischen Klasse, über die verschiedenen Standpunkte hinaus, eine besondere Sicht der Dinge bestehe, die nicht ethischer, sondern praktischer Natur sei und die ausserdem umständebedingten Veränderungen unterworfen sei. S.Ruiz macht darauf aufmerksam, dass die Kommission sich deshalb manchmal Situationen gegenüber sehen wird, die in kein Schema hineinpassen, da sie unvereinbar miteinander seien.
In Zusammenhang mit diesen verschiedenen Wahrheiten fragt man ihn nach seiner Meinung über die Drohungen, welche die Kommission seitens des Innenministeriums bei der Ankunft erhielt. Bei diesen wurde deutlich gemacht, dass die Beobachtung zwar eine erlaubte Tätigkeit sei, dass aber diese Personen sich auf keinen Fall in die politischen Angelegenheiten des Landes einmischen dürften.
 
Die BeobachterInnen äussern ihre Beunruhigung darüber, welche Kriterien bestimmen, was politisch sei oder nicht. Der Bischof antwortet, dass selbst diese Sitzung als politische Sitzung und deshalb als Vergehen betrachtet werden könnte. Er erzählt darauf die Anekdote über einen Vertreter der Migrationsbehörde, der sich zu einer Messe begab, um die anwesenden AusländerInnen zu fotografieren. Auf die Frage, was er vorhabe, antwortete der Beamte, dass diese Personen an einer politischen Feier teilnähmen.
In der Folge erklärt der Bischof, dass er sich darüber im klaren sei, dass sein Bekehrungstätigkeit eine politische Dimension habe. Wenn diese nicht versuchen würde, die Welt zu verändern und sich stattdessen nur darauf begrenzen würde, Beifall zu zollen, dann würde er auch kein christliches Leben leben. Er unterscheidet dabei klar zwischen einer politischen Dimension des Glaubens und der politischen Parteiarbeit und bestätigt, dass letztere ausserhalb der kirchlichen Struktur anzusiedeln sei, da es sich um eine individuelle Wahl handle.
Er erklärt, dass der Glaube alle Aspekte des Lebens umfasse, und obwohl er nicht zu ganz bestimmten Entscheidungen zwinge, es doch bestimmte Haltungen gebe, die für einen Christen verpflichtend seien, wie z.B. auf Seiten der Armen zu stehen. Er schildert, dass eine angemessene Analyse der Wirklichkeit ein deutliches Kausalitätsverhältnis zwischen Reichtum und Armut offenbart. Wenn man diese Analyse verstanden habe, dann werde das, was zuvor eine Möglichkeit war, zu einer Verpflichtung.
 
Auf diese Weise erklärt er, dass es ihm angesichts der unterdrückenden und räuberischen Haltungen der herrschenden sozialen Kräfte klar sei, welchen Stellenwert das Handeln innerhalb einer parteipolitischen Option hat und was Handeln im Rahmen der politischen Dimension des Glaubens bedeute. Er zitiert aus den Apostelbriefen, um seine Darstellungen zu erläutern, und erklärt, dass das Ziel seines pastoralen Handelns nicht eine Anklage an sich sei, sondern eine Anklage, die eine Veränderung dieser Situation der Ungerechtigkeit beinhalte.
 
Im Weiteren beschreibt er die Unregelmässigkeiten bei der Ausweisung des französischen Priesters Michel Chanteau und bestätigt, dass er die Wahrheit über die Ereignisse von Acteal gesagt hat. Dass das Massaker nicht hinter dem Rücken der verantwortlichen Behörden begangen wurde, zeige sich auch an der Tatsache, dass die verantwortlichen Behörden, der Staatsanwalt, der Polizeichef, der Provinzgouverneur und der Regierungssekretär ihrer Stelle enthoben worden seien.
 
Der Bischof bestätigt, dass die militärische Operation gegen die Bevölkerung von La Realidad im Januar durchgeführt wurde, um diese Tatsachen zu verheimlichen, und schliesst in einer erneuten Bezugnahme auf die Ausweisung von Chanteau daraus, dass es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen.
 
Bezüglich der Kompetenz der BeobachterInnen sich über Situationen auszulassen, welche die inneren politischen Angelegenheiten von Mexiko berühren, gibt er ein Beispiel: die Äusserung, dass die Sümpfe von Montebello schmutzig seien, könne als Kritik am Gesundheitssystem und somit als Einmischung interpretiert und deshalb als Ausweisungsgrund betrachtet werden.
 
Die BeobachterInnen fragen, ob sowohl diese Ausweisung als auch die Kampagne einiger Medien, dass die CONAI den Zutritt fremder BeobachterInnen in Chiapas fördere, vom Bischof nicht als einen Versuch, das Ansehen seiner Institution zu zerstören, interpretiert werde. Er bejaht dies und sagt, dass es nicht das erste Mal sei, dass dies geschehe. Er erwähnt andere Fälle von Ausweisungen von Priestern mit absurden Anschuldigungen und beschreibt die deutlichen Menschenrechtsverletzungen in einem dieser Fälle.
 
Der Bischof beschreibt, wie er sich angesichts der grossen sozialen Ungerechtigkeit im Verlauf seines pastoralen Werdegangs allmählich von den Grossgrundbesitzern distanziert habe und erklärt: "Es kam zusehends zu einer Zurückweisung, als es keine Basis mehr dafür gab, das Religiöse in Einklang mit der politischen Herrschaft zu halten." So sei es dann zu einem dumpfen Krieg von Anschuldigungen und Verleumdungen gegen ihn sowohl vor kirchlichen als auch zivilen Instanzen gekommen. Innerhalb der Logik des Konflikts hätten sowohl die Regierung als auch die ZapatistInnen versucht, die CONAI zu benutzen. Die CONAI sei aber nicht für die ZapatistInnen, sondern für die gerechten Anliegen, die diese vertreten - wie es auch im Gesetz des Dialogs anerkannt würde - und sie wären auch keine Vertreter der Regierung, wie sie kürzlich beschuldigt wurden.
 
Bezeichnenderweise erklärt S. Ruiz, dass die CONAI sich nie als neutral ausgegeben habe, da man angesichts der Ungerechtigkeit nicht neutral sein kann." Stets sei die CONAI der Parteilichkeit zugunsten einer Seite angeklagt worden. Auch habe es nie einen Dialog für wirkliche Verhandlungen gegeben, da dieser immer der militärischen Logik beider Seiten unterworfen gewesen sei.
 
Auf die Frage der BeobachterInnen nach der Stellungnahme der Regierung bei der Ankunft der Kommission, in der sie die CONAI für die Ankunft der AusländerInnen verantwortlich gemacht hatte, erklärt S. Ruiz, dass weder die CONAI noch er als Vorsitzender dieser Institution die Kommission zu einer Fahrt nach Mexiko einladen konnten. Gleichzeitig bekräftigt er die Bereitschaft der CONAI, die Kommission zu empfangen und mit ihren Delegierten zu sprechen. Er ist der Ansicht, dass diese Stellungnahmen der Regierung Teil der Kampagne ist, was aber seiner Arbeit für den Frieden, die er als eine historische Aufgabe bezeichnet, keinen Abbruch tun könne.
 
Danach baten die BeobachterInnen den Bischof um seine Einschätzung bezüglich der Ausstellung eines speziellen FM3-Visums, das erstmals in dieser Form bei der BeobachterInnenkommission angewandt wurde. S. Ruiz ist der Ansicht, dass es sich dabei um einen wichtigen Schritt handeln könne, insofern er eine Anerkennung des BeobachterInnenstatus bedeuten kann. Er sieht aber auch, dass das Visum dazu benutzt werden könnte, die Anwesenheit der BeobachterInnen auf einen sehr konkreten Rahmen zu begrenzen, um so mehr, wenn man die gegenwärtige Lage im Land bedenke und die Wichtigkeit, die der Verbreitung der Eindrücke der BeobachterInnen nach ihrer Rückkehr nach Europa beigemessen werde. Trotz dieser Ausführungen wahrte er jederzeit eine respektvolle Haltung gegenüber den Migrationsgesetzen des Landes.
 
Der Bischof wird um seine Meinung zu der vorgeblichen Existenz eines religiösen Konflikts in der Zona Norte gefragt, worauf er die BeobachterInnen auf das Dossier "Weder Friede noch Gerechtigkeit" des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas verweist, wo seiner Meinung nach alles detailliert dokumentiert ist.
 
Er informiert ausserdem, dass dieser Konflikt nicht auf spontane Weise entstanden sei, sondern dass er induziert wurde, um die Rückkehr der Armee zu begünstigen, die vorher die Region auf Grund des Druckes auf nationaler Ebene sowie der BewohnerInnen verlassen hatte, die später als Unterstützungsbasen der Zapatisten bzw. als Nicht-PRIistInnen ausgemacht wurden. Auch habe es in dieser Region einen starken Schwund der Mitgliederzahl der offiziellen Partei (PRI) gegeben, weshalb die Gewalt gefördert worden sei, um die Kontrolle der Situation seitens des Militärs und der Paramilitärs wiederherzustellen. Er weist darauf hin, dass das Ziel darin bestanden habe, die Parteioppositionen bei den Wahlen nicht zum Zuge kommen zu lassen. Trotz der Ausweisung von 10 Führern der Opposition sei dann erklärt worden, dass die Bedingungen für ordnungsgemässe Wahlen gegeben wären, was aber nach Meinung des Bischofs nicht der Fall gewesen ist. Das Schwerwiegende der Situation würde auch darin bestehen, dass sie sich mit einer klaren und bewiesenen Teilnahme und Einverständnis der Behörden auf umliegende Gebiete ausgeweitet habe.
 
Er weist darauf hin, dass vor zwei Monaten eine Sitzung von Pfarrern und Bischöfen stattgefunden hat, an der sie gemeinsam ein Kommuniqué mit ihrer Version des Konflikts veröffentlichten. Er erinnert daran, dass in Chiapas, wie in Irland auch, von einem religiösen Konflikt gesprochen werde, obwohl es sich um einen Machtkonflikt handle.
 
Auf die Frage über den weiteren Verlauf des Dialogs erklärt S. Ruiz, dass die Existenz von Vereinbarungen nicht gering geschätzt werden dürfe. Zum jetzigen Zeitpunkt seien aber die notwendigen Voraussetzungen zur Weiterführung des Dialogs nicht gegeben. Er nimmt dabei Bezug auf das Dokument der CONAI-COCOPA, in dem die Regierungsversion, dass in diesem Moment die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Dialogs gegeben seien, klar widerlegt werden würden.
 
Die BeobachterInnen fragen den Bischof nach den vier Punkten des Vorschlags der COCOPA, die von der Regierung angefechtet werden, und nach seinem Eindruck bezüglich der unterschiedlichen Haltung zwischen Exekutive und der Armee.
 
Der Bischof bestätigt diesen Punkt und erinnert an die Voraussetzungen für die Aufnahme der Verhandlungen. Ausserdem ist es seiner Meinung nach zu Nachlässigkeiten bei der Bildung der COSEVER (Überwachungs- und Überprüfungskommission) gekommen und einer Missachtung der EZLN als Gesprächspartnerin. Er weist darauf hin, dass die fünf Bedingungen der EZLN zur Wiederaufnahme des Dialogs, die von Anfang an für erfüllbar erklärt worden seien, gegenwärtig nicht nur nicht gegeben seien, sondern dass sich die Situation seitdem verschlimmert habe. Als Beispiel führt er die stark angewachsene Zahl zapatistischer Gefangene an, die zunehmende Gewalt in der Zona Norte und die ständigen Feindseligkeiten gegenüber den indigenen Gemeinden seitens der Armee. Auch habe es keine Beziehung zwischen dem Vorgehen der Armee und dem Prozess des Dialogs gegeben. Dies habe den Anschein erweckt, dass die Armee autonom handle und das Ziel verfolge, Uneinigkeit zwischen den Gemeinden zu säen und einen Konsens zu verunmöglichen, indem die Unterstützungsbasen der EZLN geschwächt werden.
Was den Gesetzesentwurf der COCOPA betrifft, weist der Bischof darauf hin, dass die Einwände der Regierung einer Neuverhandlung der Abkommen von San Andres gleich kämen, und er fragt sich, welchen Sinn die Unterzeichnung dieser Abkommen hatten und welche Bedeutung dem Dialog beigemessen werde, wenn dort getroffenen Vereinbarungen nicht erfüllt würden. Ausserdem drückt er seine Sorge über die Garantien aus, unter denen die weiteren Verhandlungs-Tische des Dialogs durchgeführt werden können.
 
S. Ruiz hob klar hervor, dass eine Wiederaufnahme des Dialogs nicht möglich ist, solange die Bedingungen nicht erfüllt sind. Das gegenwärtige Problem bestünde darin, dass das im gemeinsamen Konsens Unterzeichnete abermals verhandelt werden soll.
 
Auf die Frage der BeobachterInnen nach den Auswirkungen der Militarisierung und der angeblichen Sozialdienste der Bundesarmee antwortet der Bischof ironisch, es sei ja allgemein bekannt, dass die Aufgabe der Militärs nicht im Zähneziehen und in der Strassenreinigung in den Gemeinden bestünde. Die konkrete Verpflichtung der Armee sei die "Entparamilitarisierung" und in dieser Hinsicht habe sie bisher nicht das Geringste geleistet.
 
Die Arbeit der Armee bestünde vielmehr darin, eine Dynamik der zivilen Konfrontation sowie ein Klima der Gewalt und Polarisierung zu fördern. Er befürchtet, dass dieser Prozess unumkehrbar sein könnte und dass sein Ziel in der Spaltung der Gemeinschaften bestehe, um so die politische Basis der EZLN zu annullieren.
 
Gleichzeitig hebt er die Verantwortung der Armee bei der Einführung von Drogen und Prostitution in die Gemeinschaften hervor und erklärt, dass die Armut viele Familien dazu treibe, ihre Töchter gegen Geld den Soldaten auszuhändigen.
 
Als Antwort auf das Interesse der BeobachterInnen bezieht sich der Bischof auf die Glaubenstätigkeit der Diözese unter den Indigenen, ihre Ursprünge und ihren Werdegang, wobei er darauf hinweist, dass sie darauf ausgerichtet ist, die Offenbarung der Existenz Gottes vor der Evangelisierung durch die Conquista anzuerkennen. Diese Anerkennung verlange nach einer Kirche, die in der eigenen Kultur verwurzelt sein müsse und nicht als aufgesetzter Ausdruck einer Kultur fungieren dürfe, die sich für den einzigen gültigen Weg zum Ausdruck des Glaubens darstellt. Die indigenen Völker müssten ihren eigenen Glauben ausdrücken und nicht den von anderen. Man müsse nicht nur die Indigenen innerhalb ihrer ethnischen Autonomie anerkennen, sondern auch in ihrer Autonomie innerhalb der Offenbarung.
 
 
Abschliessend erklärt S. Ruiz, dass der gesamte amerikanische Kontinent sich in einem historischen Moment befände, wo der interreligiöse Dialog, der vor 500 Jahren nicht stattgefunden habe, sich vielleicht jetzt als Antwort auf das Hervortreten der indigenen Theologie geben werde. In diesem Zusammenhang stellt er das Hervortreten neuer Subjekte fest, welche die Möglichkeit hätten auf das Makrosystem einzuwirken, dessen Auswirkungen wir alle beklagen: die traditionell unterdrückte(n) Dritte Welt, Frauen, Indigenen etc.
 
Zum Abschied richtet er einige Worte an die Kommission, der er eine vitale Bedeutung bescheinigt. Niemals zuvor habe es eine derartige Mission gegeben, nicht nur was ihre zahlenmässige Stärke angehe, sondern auch die Umstände ihrer Ankunft und die Tatsache, dass ihre Existenz durch die Ereignisse in Acteal ausgelöst worden sei.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
VI.
SCHLUSSFOLGERUNGEN AUS DEN BEOBACHTERiNNENTÄTIGKEITEN DER INTERNATIONALEN MENSCHENRECHTSKOMMISSION (CCIODH)
 
Nach Zusammenstellung der Information, ihrer Systematisierung und Auswertung stellt die CCIODH fest, dass die Menschenrechte im mexikanischen Bundesstaat Chiapas auf ausserordentlich schwerwiegende Weise beeinträchtigt werden.
 
Chiapas leidet gegenwärtig unter den Auswirkungen eines tiefgreifenden politischen Zerfalls und einer besorgniserregenden sozialen Destrukturierung. Auf jeder gesellschaftlichen Ebene ist wahrzunehmen, dass die institutionellen Strukturen nicht in der Lage sind, den Rechtsstaat zu gewährleisten, und dass die chiapanekische Gesellschaft im allgemeinen und die indianischen Gemeinschaften im besonderen unter den Auswirkungen einer verallgemeinerten Situation der Gewalt und Rechtlosigkeit leiden.
 
 
Die bestimmenden Faktoren zur Erzeugung dieser Situation sind folgende:
 
1.- Die intensive Militarisierung des Gebiets.
2.- Die Präsenz von paramilitärischen Gruppen.
3.- Die verallgemeinerte Situation der Rechtlosigkeit.
4.- Die Hindernisse beim Zugang zur Justiz
5.- Das strukturelle Elend in den indianischen Gemeinschaften
6.- Die Verfolgungsmassnahmen gegen Organisationsformen der Zivilgesellschaft
7.- Die fehlende politische Bereitschaft zur Suche nach einer Erfüllung der Forderungen der indianischen Völker.
 
1.- Die intensive Militarisierung des Gebiets.
Bei den Besuchen in den verschiedenen indianischen Gemeinschaften hat die Kommission eine umfassende Präsenz der Armee festgestellt, die gemäss der Aussagen der BewohnerInnen einen der entscheidendsten Faktoren bei den Verletzungen der Menschenrechte darstellt. Den Regierungserklärungen zufolge erfüllt die Armee lediglich ihren Verfassungsauftrag. Es war aber deutlich festzustellen, dass sie sozialpolitische Aufgaben und Funktionen der Sicherung der öffentlichen Ordnung wahrnimmt, die ihr verfassungsrechtlich nicht zustehen. Fast alle gegenüber der Kommission geäusserten Meinungen stimmen darin überein, dass die Präsenz der Armee Teil einer Regierungsstrategie ist, die darauf abzielt, die Ausdehnung des den zapatistischen Forderungen nahestehenden Gebietes zu verhindern und die EZLN über die Verfolgung derjenigen Gemeinschaften einzukreisen und zu schwächen, die ihre ideologische Nähe zu den zapatistischen Forderungen der Anerkennung der Rechte der indianischen Völker manifestieren.
 
Im Verlauf der BeobachterInnentätigkeiten wurden zahlreiche Klagen entgegengenommen, in denen militärische Einnahmen von Gemeindeländereien, ständige Drohungen, Vergewaltigungen von Frauen, Verhaftungen ohne Rechtsgrundlage und konstante militärische Einschüchterungen bezeugt werden. Diese Verfolgungsmassnahmen bewirken, dass zahlreiche indigene Gemeinschaften in einer permanenten Atmosphäre von Terror und Unsicherheit leben.
 
2.- Die Präsenz von paramilitärischen Gruppen.
Es wurde eine starke Zunahme von bewaffneten Gruppen bezeugt, die auf systematische und selektive Weise inner- und zwischenkommunitäre Zusammenstöße provozieren und, wie die Kommission feststellen musste, Teil einer Strategie sind, die darauf ausgerichtet ist, massive Vertreibungen zu provozieren und die soziale Struktur ganzer Gebiete sowie das Organisationsgefüge der Zivilgesellschaft zu zerstören.
 
Die meisten Aussagen der Betroffenen weisen auf eine direkte Beziehung von Kräften der Armee und der Polizeikörper mit diesen bewaffneten Gruppen hin. Dies bezieht sich sowohl auf die Lieferung von Waffen als auch auf die Ausbildung der paramilitärischen Gruppen. Die bei den Untersuchungen über Acteal zu Tage getretenen Widersprüche bestätigen diese These. Ausserdem weisen mehrere ZeugInnenaussagen darauf hin, dass die nach den Vorfällen von Acteal befohlene Aufstockung der Militär- und Polizeipräsenz, die den amtlichen Angaben zufolge zur Bekämpfung der paramilitärischen Gruppen erfolgte, zu einem verstärkten Auftritt dieser Gruppen in Gegenden geführt hat, in denen sie vor Aufstockung der Militärpräsenz nicht präsent waren.
 
Aus den Beobachtungen ergab sich auch, dass der Widerspruch zwischen den Interessen der Grossgrundbesitzer und den Gemeinschaften einer der Faktoren ist, der die Zunahme der paramilitärischen Gruppen erklärt. Genauer gesagt, handelt es sich dabei um den Weg, den die ersteren gewählt haben, um ganze Gemeinschaften von ihrem Gemeinschaftsbesitz zu vertreiben.
 
Im Hinblick auf mögliche Beziehungen zwischen PRI und Regierungsinstanzen ist darauf hinzuweisen, dass es mehrere Faktoren gibt, die diesen Verdacht erhärten. Dies gilt vor allem für die Organisation "Desarrollo, Paz y Justicia". Einer der wichtigsten Vertreter dieser Organisation ist PRI-Abgeordneter im chiapanekischen Parlament, was bisher weder von Seiten der PRI noch von Seiten der Regierung zu Reaktionen geführt hat.
 
3.- Die verallgemeinerte Situation der Rechtlosigkeit
Wie nachdrücklich von den RegierungsvertreterInnen erklärt wurde - auch wenn damit stets die Armeepräsenz gerechtfertigt wurde -, ist die allgemeine Situation der Rechtlosigkeit eines der Elemente, durch das die kritische Lage in der Region verschärft wird. Es ist hervorzuheben, dass die bisher in diesem Zusammenhang getroffenen Massnahmen sich hauptsächlich auf die Intensivierung der Militärpräsenz beschränkt haben. Schritte zur Behebung der manifesten Unfähigkeit der Justiz, ein Minimum an Rechtssicherheit zu gewähren, sind bisher ausgeblieben.
 
In diesem Sinne muss auch das medienwirksame Vorgehen des Innenministeriums bei Vorfällen wie in Acteal interpretiert werden. Dieses Vorgehen stellt keine Lösung für den Zerfall der Rechtssicherheit.
 
4.- Die Hindernisse beim Zugang zur Justiz
Im Zusammenhang mit der im vorangegangen Punkt aufgeführten Rechtlosigkeit hat die Kommission ein starkes Misstrauen der Gemeinschaften im Hinblick auf die Rechtsorgane festgestellt. Im Verhältnis zu den zahllosen Menschenrechtsverletzungen ist es zu einer äusserst geringen Zahl von Anzeigen gekommen. Dies ist unter anderem dadurch bedingt, dass Versuche sich an die Justiz zu wenden, um eine Anzeige zu stellen, damit geendet haben, dass der/die Anzeigende/n in der Folge Verfolgungsmassnahmen durch die Landespolizei bzw. durch die paramilitärischen Gruppen ausgesetzt war/en.
 
5.- Das strukturelle Elend in den indianischen Gemeinschaften
In allen Gesprächen wurde Chiapas als der Bundesstaat mit den negativsten sozialen Indikatoren bezeichnet. Das Ergebnis der Beobachtungen hat die statistischen Angaben bestätigt. Obwohl Chiapas eine ressourcenreiche Region ist, herrscht ein radikales Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums. Im Rahmen dieser althergebrachten Situation kommt es zu einem Interessenskonflikt: Einerseits fordern die Gemeinschaften ein Entwicklungsmodell, das ihre Traditionen und ihre Beziehung zur Natur achtet, und andererseits herrscht ein Modell der intensiven Wirtschaftsentwicklung vor, das von den wichtigsten lokalen, nationalen und internationalen wirtschaftlichen Interessensgruppen propagiert wird.
 
Als Beispiel dafür kann auf die Bedeutung der chiapanekischen Erdöl- und Wasserressourcen hingewiesen werden, auf das intermodale Verbindungsprojekt zwischen Pazifik und Atlantik über die Landenge von Tehuantepec oder die Investitionsvorhaben von multinationalen Konzernen wie Nestlé (Bau einer Milchpulverfabrik).
 
6.- Die Verfolgungsmassnahmen gegen Organisationsformen der Zivilgesellschaft
Diese materialisieren sich in der Verfolgungsmassnahmen gegen die Führer der Gemeinschaften und der sozialen Organisationen. Wie die Kommission feststellen musste, ist die bedauerlicherweise zur mexikanischen Tradition gehörende Praxis der Bedrohungen, Übergriffe und Morde an politischen GegnerInnen weiterhin Bestandteil der politischen Gegenwart. Es ist auf die Existenz von politischen Gefangenen hinzuweisen, bei denen es sich um Führer der zivilen zapatistischen Gemeinschaften handelt, die weder einem gerechten Gerichtsverfahren noch minimal annehmbaren Haftbedingungen unterworfen werden (räumliche Entfernung von den Familien, Folterungen, gesundheitsschädliche Haftbedingungen, Überbelegung der Zellen usw.). Unter dem Vorwand der Ermittlung von vermeintlichen Verbindungen mit bewaffneten Gruppen nehmen - auch in anderen mexikanischen Bundesstaaten wie Oaxaca, Guerrero und Puebla - die Einfälle der mexikanischen Armee zu. Die dabei vorgenommen Verhaftungen der Gemeindeverantwortlichen stellen eine Zerstörung der gewachsenen Strukturen dar.
 
7.- Die fehlende politische Bereitschaft zur Suche nach einer Erfüllung der Forderungen der indianischen Völker.
Die Kommission konnte die allgemein verbreitete Enttäuschung über die Nichterfüllung der Abkommen von San Andrés feststellen. Sie kommt nicht umhin, ihre Verwunderung über die Weigerung der Regierung Ausdruck zu verleihen, die Gesetzesvorlage der COCOPA zu akzeptieren. Diese Gesetzesinitiative war mit allen politischen Kräften des mexikanischen Parlaments abgestimmt und von der EZLN akzeptiert worden und ihre Ratifizierung hätte, auf vielleicht entscheidende Weise, zur Lösung des Konflikts beigetragen, denn es wäre damit die Grundlage für eine soziale, politische und wirtschaftliche Umstrukturierung der Region gelegt und zugleich ein neuer Horizont für die Anerkennung der indigenen Rechte eröffnet worden.
 
Keines der Argumente der Exekutive zur Rechtfertigung der Regierungseinwände wurden der Kommission, trotz allen Nachdrucks, hinreichend erklärt. So musste die Kommission zu der Einschätzung gelangen, dass sich hinter den vorgebrachten Einwänden der fehlende Wille zur Verwirklichung der Abkommen von San Andrés und der dadurch notwendigen Verfassungsreform verbirgt.
 
 
Als Ergebnis der gemachten Beobachtungen muss darauf hingewiesen werden, dass im Bundesstaat Chiapas zahlreiche Menschenrechte verletzt werden. Diese Verletzungen erfolgen in allen Bereichen und umfassen Verletzungen des Rechts auf Leben, auf die persönliche Freiheit, auf die freie Bewegung und Niederlassung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht zur Anklage von Menschenrechtsverletzungen vor den nationalen Gerichten, das Recht auf Schutz vor Amtsmissbrauch und -willkür, das Recht auf ein Verfahren vor einem unparteiischen und unabhängigen Gericht; das Recht auf Verteidigung; das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit; das Recht zur Mitwirkung in öffentlichen Vertretungsorganen; das nicht durch Diskriminierung eingeschränkte Recht auf Bekleidung von öffentlichen Ämtern, das Rechte auf freie und demokratische Wahlen.
 
An zweiter Stelle betreffen diese Rechtsverletzungen auch wirtschaftliche und soziale Rechte, wie zum Beispiel die Fähigkeit zur Teilnahme an denjenigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, die unerlässlich für die Würde und die freie Entwicklung des Menschen sind; das Recht auf einen besonderen Schutz der Mutterschaft und der Kindheit; das Recht auf eine allgemeine Schulbildung, die auf eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet ist; das Recht aller Personen zur Teilnahme an ihrer eigenen Kultur.
 
Auch wenn der Konflikt in Chiapas die Bevölkerung im allgemeinen betrifft, ist festzustellen, dass die indigenen Gemeinschaften auf besondere Weise davon betroffen sind. Innerhalb dieser traditionell benachteiligten und marginalisierten sozialen Gruppe, die sich zudem im Zentrum des Konflikts befindet, leiden die Gruppe der Vertriebenen und die indigenen Frauen unter einer noch zugespitzeren Situation:
 
a)- Vertriebene Gemeinschaften:
Als Ergebnis der Aktionen der paramilitärischen Gruppen und der Belagerung durch die Armee und der bundesstaatlichen Polizeikräfte leiden die über 10.000 Flüchtlinge, die es gegenwärtig in Chiapas gibt, nicht nur unter den durch das Exil bestimmten materiellen und affektiven Verlusten, sondern sind auch Opfer einer Reihe von Verletzungen ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Rechte. An erster Stelle sind sie ihres Rechtes auf Subsistenz beraubt, wodurch sie sich in einer lebensgefährlichen Lage befinden. Es wurde ein absoluter Mangel an den minimalen sanitärer Mitteln festgestellt, die unerlässlich für die Deckung der medizinischen Notwendigkeiten der Bevölkerung sind. Der gesundheitliche Zustand der Vertriebenen, wie auch der Mehrheit der Indigenen, ist überaus prekär. Die verbreitetsten Krankheiten sind durch die Unterernährung und die prekären sanitären Bedingungen bestimmt (Magen-Darm-Krankheiten und Erkrankungen der Atemwege).
Im Hinblick auf das Recht auf Erziehung wurde das Fehlen von Mitteln und Möglichkeiten festgestellt, um dieses Grundrecht auszuüben. Es muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass die Mehrheit der indigenen Bevölkerung AnalphabetInnen sind, eine Proportion, die bei den Flüchtlingsgemeinschaften noch besorgniserregender ist.
 
b)- Frauen:
Wie in dem spezifischen Abschnitt über die Lage der Frau deutlich geworden ist, sind die Frauen über die gewalttätige Situation hinaus, von der die Gesamtheit der Bevölkerung betroffen ist, Opfer der Ungerechtigkeiten, unter denen sie traditionell leiden.
Im spezifischen Fall des zivilen Widerstands gegen die Besetzung von Gemeindeländereien und ganzen Gemeinschaften durch Militär und Landespolizei agieren die Frauen oft als menschlicher Schutzschild. In Folge davon erleiden sie auf dramatische Weise am eigenen Körper die Gewalt des Konflikts. Wie aus den ZeugInnenaussagen zu entnehmen ist, kommt es auch häufig zu sexuellen Aggressionen durch Soldaten, Mitglieder der Landespolizei und paramilitärische Gruppen. Die beklemmende Lage der Frauen wird noch durch den Umstand verschärft, dass die meisten indigenen Frauen nicht Spanisch sprechen.
 
 
Vor Behandlung des Abschnittes, in dem die Empfehlungen der Kommission ausgesprochen werden, erscheint der Hinweis angebracht, dass der Grad der Komplexität des Konflikts in Chiapas und die Lage der Menschenrechte nicht den Blick darauf versperren dürfen, dass im Substrat des zapatistischen Aufstands und in den Forderungen, die ein Grossteil der Gemeinschaften der Kommission gegenüber geäussert haben, eine ganze Reihe von Lösungsansätzen zur Überwindung der Marginalisierung und Missachtung enthalten sind, dem die indianischen Völker seit mehr als fünf Jahrhunderten ausgesetzt sind.
 
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass es eine Reihe von allgemeinen und strukturellen Lösungsansätze der indianischen Völker gibt, welche die Regierung ihren Aussagen zufolge zwar respektiert, bei denen aber den Beobachtungen der Kommission zufolge das Gegenteil der Fall ist. Globale Lösungsvorschläge wie diejenigen, welche der Gouverneur des Bundesstaates Chiapas vertritt, machen deutlich, dass der institutionelle Ansatz unvereinbar ist mit einem Ansatz zur Lösung des Konflikt, der auf einer wirklichen Achtung der indianischen Forderungen basiert.
 
Obwohl in den offiziellen Verlautbarungen immer wieder der Wille zum Dialog betont wird, weist die Praxis auf die Absicht hin, den Dialog zu schwächen, die Hilfs-, Vermittlungs- und Überwachungsinstanzen zu diskreditieren und die Möglichkeiten zu einer nicht gewalttätigen Lösung des Konflikts zu zerstören. Aufgrund ihrer Beobachtungstätigkeiten ist die Kommission zu der Schlussfolgerung gelangt, dass dies die einzig mögliche Interpretation für die Präsenz der paramilitärischen Gruppen und die fremdenfeindliche Kampagne ist, mit der versucht wird, die Anwesenheit von AusländerInnen im Konfliktgebiet zu verhindern. Allen Beobachtungen zufolge stellen die Zivilen Friedenscamps eine Garantie für die Sicherheit der Gemeinschaften dar.
 
In den Tagen vor der Veröffentlichung dieses Berichts haben sowohl die PAN als auch die PRI ihre jeweiligen Gesetzesinitiativen für eine neue Rechtsstellung der indianischen Völker in der Verfassung vorgelegt. Beide Gesetzesvorlagen bescheinigen erneut den fehlenden Willen, die direkte Meinung der verschiedenen indianischen Völker zu berücksichtigen, und zerstören damit de facto den Weg des Dialogs und der Verhandlungen, der durch die Abkommen von San Andrés bereitet wurde.
 
Es handelt sich hierbei um einen weiteren Schritt innerhalb einer Strategie, die dazu geführt hat, dass die Armee angesichts des politischen und sozialen Zerfalls, der im heutigen Mexiko herrscht, die Rolle des authentischen Hauptdarsteller übernommen hat. Trotz der Rechtswirksamkeit des "Gesetzes für den Dialog, die Eintracht und den würdigen Frieden in Chiapas" muss in Chiapas von einem Krieg der niederen Intensität gesprochen werden. Dieser Krieg der niederen Intensität weist folgende Merkmale auf: Einschüchterungsmassnahmen und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, um die EZLN von ihrer sozialen Basis zu isolieren; der Versuch, den Konflikt auf rein lokale Probleme zu beschränken, die durch die Existenz von religiösen und ethnischen Problemen erklärt werden und vorgeblich keinerlei verallgemeinerbare Forderungen und Lösungsansätze enthalten würden.
 
 Auf Grundlage der in diesen Schlussfolgerungen beschriebenen Umstände formuliert die Kommission folgende
 
IV.1. EMPFEHLUNGEN:
 
1.- Sofortige und umfassende Erfüllung der Abkommen von San Andrés und Wiederaufnahme der Verhandlungen und des Dialogs zwischen der EZLN und der Bundesregierung.
 
2.- Respektierung der von der COCOPA vorgelegten Initiative zur Verfassungsreform.
 
3.- Festigung der Aufgabenstellungen der Vermittlungsinstanz CONAI und der Überwachungsinstanz COSEVER.
 
4.- Ende der Militarisierung und Paramilitarisierung (Rückzug der Armee in die Kasernen und Entwaffnung der paramilitärischen Banden)
 
5.- Gewährleistung des freien Zugangs zu den Organen der Rechtsprechung und Förderung des Kampfes gegen die Rechtlosigkeit durch allgemeine und nicht nur rein symbolische Massnahmen.
 
6.- Sofortige Amnestie der politischen Gefangenen.
 
7.- Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatgemeinschaften, vollständige Wiederherstellung ihres Eigentums und Entschädigung für die erlittenen Schäden.
 
8.- Stärkung der Stellung der mexikanischen Menschenrechtsorganismen und Gewährleistung der Präsenz von entsprechenden internationalen Organismen, sowie die Anerkennung eines internationalen Beobachterstatuts.
 
9.- Intervention des Internationalen Roten Kreuzes als Garant für die humanitäre Betreuung der Zivilbevölkerung aufgrund der verbreiteten Ablehnung der Hilfe durch regierungstreue Organismen.
 
10.- Ernennung eines ONU-Berichterstatters für Mexiko.
 
11.- Errichtung eines Mechanismus von Seiten der Europäischen Union zur Überwachung der "Demokratie- und Menschenrechtsklausel". Sollte das mit Mexiko unterzeichnete "Abkommen der wirtschaftlichen Vereinigung, politischen Koordination und Zusammenarbeit" rechtskräftig werden, müsste dieser Mechanismus eine ständige Überwachung der Lage der Menschenrechte in Mexiko ermöglichen. Dieses Organ sollte sich aus verschiedenen mexikanischen und internationalen Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte zusammensetzen.
 
Kürzelverzeichnis
 
CCIODH: Internationale Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte
CNDH: Nationale Menschenrechtsorganisation (staatlich)
CNI: Nationaler Indigena Kongress
COCOPA: Parlamentarische Hilfsinstanz im Dialog zwischen der Regierung und der EZLN
CONAI: Vermittlerinstanz im Dialog zwischen der Regierung und der EZLN
COSEVER: Kommission, die die Einhaltung und Durchführung der Abkommen von San Andres kontolliert
EZLN: Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung
ONG: Nicht-Regierungs-Organisation
PAN: Partei der Nationalen Aktion (rechte Oppositionspartei zur PRI)
PRD: Partei der demokratischen Revolution (linke Oppositionspartei zur PRI)
PRI: Partei der institionalisierten Revolution (Staatspartei, seit über 60 Jahren an der Macht)
PT: Partei der Arbeit
SEDENA: Verteidigungsministerium