Pressebüro Savanne, hyäne 4/98, Seite 60, Rubrik Antisemitismus


Antisemitismen in Flugblatt zum 1. Mai

Das Flugblatt ``1. Mai...!!! Warum...???...!!!'' vom palästinensischen Kulturzentrum Zürich, das am diesjährigen 1. Mai verteilt wurde, ist voll von Antisemitismen. Manche Aussagen darin sind auch geschichtsrevisionistisch. Bevor ich das weiter ausführe, möchte ich etwas dazu sagen, wo ich stehe, damit mein Kontext vielleicht transparenter wird. Ich wurde unter anderem durch die Palästina-Solidaritätsarbeit politisiert, war mehrmals in Palästina/Israel, habe nach wie vor Kontakt zu PalästinenserInnen aus verschiedenen palästinensischen Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern. Ich habe die Entwicklung der letzten Jahre aus der Nähe mitverfolgt und habe miterlebt, wie der sogenannte ``Friedensprozess'' meinen palästinensischen FreundInnen mehr und mehr die Hoffnung auf Zukunftsperspektiven genommen hat. Währenddessen machte sich in einer Öffentlichkeit der Metropole zunächst die Illusion breit, im Nahen Osten würde um einen Frieden verhandelt. Mehr und mehr schlug diese Illusion in Desinteresse um, auch innerhalb der radikalen Linken. Ich erkläre mich solidarisch mit dem Kampf der PalästinenserInnen gegen ihre Unterdrückung durch den israelischen Staat. Darüberhinaus bin ich in einer Gesellschaft aufgewachsen und sozialisiert worden, in der Antisemitismen allgegenwärtig sind, von sprachlichen Ausdrücken über die Literatur und Witzkultur bis hin zu Verschwörungstheorien.

In diesem Zusammenhang habe ich den politischen Anspruch an mich selber, dass ich meinen eigenen Diskurs dahingehend reflektiere, ob ich darin Antisemitismen verwende, wie ich ihn auch auf Sexismen und Rassismen untersuchen will. Ich gehe davon aus, dass Antisemitismen Ausdruck eines Machtgefälles in westeuropäischen Gesellschaften zuungunsten von Jüdinnen und Juden ist. Ich erkläre mich nicht nur solidarisch mit dem Kampf der Jüdinnen und Juden gegen ihre Unterdrückung durch AntisemitInnen, sondern sehe mich als Teil derjenigen, die potentiell zu dieser Unterdrückung beitragen und sehe es unter anderem als meine Aufgabe, mich mit dieser Unterdrückung auseinanderzusetzen und aktiv gegen sie zu kämpfen.

Meine Hoffnung ist, dass die anhaltende Unterdrückung der PalästinenserInnen durch den Staat Israel vermehrt thematisiert wird. Dabei soll nichts beschönigt werden von dem, was Israel an Unterdrückungsmittel einsetzt. Was nicht angeht und wogegen ich mich wehre ist, dass Bezug genommen wird auf antisemitische Tendenzen in den westeuropäischen Gesellschaften, und dass dabei eine Informationskampagne ersetzt wird durch populistische Propaganda.

Nun zu den einzelnen Punkten des Flugblatts. Juden und Jüdinnen werden im Flugblatt als ``Killer Jesu'' bezeichnet, vor dem die Welt vor Furcht verstummt sei. Die Jesusmord-Propaganda gegen Jüdinnen und Juden kommt wie viele Antisemitismen aus der christlichen Kirche, die sich zur Zeit, als sie Staatsreligion des römischen Reichs wurde, von ihren Wurzeln als jüdische Sekte lossagte, indem sie Jüdinnen und Juden, die sich nicht zur neuen Religion bekannten, stigmatisierte und zu verfolgen begann. Diese Propaganda in ein Flugblatt einfliessen zu lassen, das sich vom Anspruch her mit der Unterdrückung der PalästinenserInnen durch Israel befasst, spricht antisemitische Tendenzen in den westeuropäischen, christlich geprägten Gesellschaften an, zielt also darauf ab, Hass und Ausgrenzung in Westeuropa propagandistisch-populistisch zu verwerten.

Sosehr LiteraturkritikerInnen versucht haben, den nach der Shoah peinlich wirkenden Antisemitismus zu relativieren, der Shakespeares bekanntes Stück ``Der Händler von Venedig'' von Anfang bis Ende durchzieht:

Das Stück gibt den Antisemitismus Shakespeares und der elizabethanischen Zeit wieder. Das Zitat, das im Flugblatt verwendet wird, ``sie (die Juden) wollen alles haben und nichts geben'', bezieht sich auf *``die Juden''*. Wie in der weiter oben zitierten Stelle ist es klar, dass es nicht um Zionismus oder Israel geht, sondern um Jüdinnen und Juden. Weder zu Zeiten der frühchristlichen Kirche noch in Shakespeares ausgehendem 16. Jahrhundert gab es den Zionismus.

Das Flugblatt geht davon aus, dass ``Europa und die Welt [...] um Verzeihung und Vergebung den Juden gegenüber für ein Verbrechen [gebeten haben], das nicht sie, sondern die Nazis begangen haben''. Dies entspricht einer sehr verkürzenden Form von Antifaschismus, die die Verantwortung für Nationalsozialismus und Shoah einigen wenigen Nazis zuschiebt und damit andere Teile der Bevölkerung sowie Nachkriegseuropa als Ganzes von der Verantwortung reinwäscht. Diese geschichtsverfälschende Sicht hat nach dem Krieg eine grosse Rolle gespielt, um möglichst schnell zu einer Normalität zurückzukehren, ohne sich mit der jeweils eigenen Verantwortung für die Shoah und den Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Sie ist insofern antisemitisch, als sie die Begebenheiten, die zur Shoa geführt haben, verdreht und mit dem Ende des Nationalsozialismus als ein für alle Mal abgeschlossen und erledigt ansieht. Damit werden der antisemitische Umgang etwa mit jüdischen Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland negiert und heute real existierende Antisemitismen bagatellisiert.

Wenn gleich auf den eben zitierten Satz folgt: ``Ist die Zeit noch nicht reif genug für Europa und die Welt, sich Gedanken zu machen, über das *wahre* Verbrechen, das bis heute sie gegenüber dem palästinensichen Volke ausüben?'' (Hervorhebung von mir), dann ist das geschichtsrevisionistisch. Was soll das Adjektiv ``wahre'' bewerkstelligen, wenn nicht eine Relativierung der (nicht wirklich ``wahren''?) Shoah gegenüber der ``wahren'' Unterdrückung, die den PalästinenserInnen heute zuteil wird. Das Ausspielen einer Unterdrückungsgeschichte gegen eine andere ist hier, da auf Kosten der Unterdrückungsgeschichte von Juden und Jüdinnen in Westeuropa verwendet, antisemitisch.

Um wieder weiter oben im Flugblatt anzusetzen: ``Haben denn *die Juden* schon vergessen, was die Nazis mit ihnen gemacht haben?'' (Hervorhebung von mir) Die Frage ist in dem Sinne antisemitisch, als sie *``die Juden''* kollektiv für die Unterdrückung der PalästinenserInnen verantwortlich macht. Darüberhinaus geht es nicht an zu fordern, dass Jüdinnen und Juden bessere Menschen sein sollten, die keine Verbrechen begehen, weil sie in der Shoah selber von einem Verbrechen getroffen wurden. Diese Forderung unterstellt, dass Auschwitz eine Besserungsanstalt war. Auf die Spitze getrieben hiesse das, die Nazis haben ihre ``Besserungsarbeit'' nicht gründlich genug gemacht.

Weiter oben im Flugblatt heisst es, *``zionistische Juden''* (diesmal ist die Einschränkung gemacht) würden ``das palästinensische Volk mit Nazistrategien und Methoden quälen, foltern und ihrer Rechte berauben.'' Ich denke, dass in bestimmten Situationen historische Vergleiche zulässig sind. Derjenige zwischen Israel und Nazideutschland ist es (jedenfalls so, wie er hier benutzt wird und wie ich ihn bisher kennengelernt habe) nicht. Das liegt daran, dass er nicht inhaltlich begründet wird, sondern auf einer moralischen Ebene ansetzt, dass also der weiter oben zitierte Vorwurf (``haben die Juden nichts gelernt?'') mitschwingt.

Als inhaltlich begründet sehe ich beispielsweise den Vergleich zwischen der Verneinung der Identität der PalästinenserInnen durch Israel einerseits, der KurdInnen durch die Türkei andererseits; oder der Vergleich zwischen der territorialen Aufsplitterung der West Bank durch die israelische Besatzungsmacht einerseits, der Bildung von Bantustans in Südafrika andererseits; oder dem Einsatz von Tränengas in den besetzten palästinensischen Gebieten durch das israelische Militär einerseits, dem Einsatz von ähnlichen Kampfgasen durch die Zürcher Polizei gegen das 1. Mai-Fest letztes Jahr andererseits. Bei jedem solchen Vergleich ist noch nichts darüber gesagt, ob etwas aus der Parallele gelernt werden kann, indem Erfahrungen aus dem einen Widerstand für den anderen beigezogen werden können. Zumindest jedoch weisen sie auf eine inhaltliche Parallele hin. Die Parallelen zwischen Nazideutschland und Israel sind bestenfalls oberflächlich und erschöpfen sich im wesentlichen darin, dass beide als Unterdrücker auftreten.

Auf einen oft gehörten Einwand möchte ich kurz eingehen: Er besagt, dass PalästinenserInnen gar nicht antisemitisch sein könnten, da sie selber SemitInnen seien. Antisemitismus ist ein historisch gewachsener Begriff, der sich auf Diskriminierung von Jüdinnen und Juden bezieht und nicht allgemein auf Diskriminierung von SemitInnen. Die Verwendung dieses Ausdrucks kann kritisiert werden, da er deswegen möglicherweise verwirrlich ist: Vielleicht sollte ein neuer Ausdruck gefunden werden. Selbst aber wenn Antisemitismus sich im etymologischen Sinn auf Diskriminierung von SemitInnen beziehen würde, ist es Unsinn zu sagen, dass PalästinenserInnen nicht antisemitisch sein können, genauso, wie es Unsinn ist zu sagen, Jüdinnen und Juden könnten nicht antisemitisch sein. Antisemitische Stereotypen sind Teil der Sozialisierung der Leute in westlicheuropäischen Gesellschaften, auch der Sozialisierung von PalästinenserInnen hier, auch der Sozialisierung von Jüdinnen und Juden hier. Ausgrenzung und Unterdrückung sind vielschichtige Phänomene, denen mit einfachen Kategorien nicht beizukommen ist. Einfache Kategorien schaffen die Voraussetzung für weitergehende Unterdrückung.

Seien wir vorsichtig im Umgang mit ihnen!

Marc Riel


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Letzte Änderung 1999-11-21