Erste Schritte im Exil

 

" Wenn man keinen Mut hat,

hat das Leben keinen Sinn"

 

 

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Drei Jahre waren schon vergangen, seit Tante Mwali aus Burundi geflohen war. Es war 1969, als sich das zweite geschichtliche Blutbad in Burundi ereignet hatte, in dem ihr Mann umgebracht wurde. Drei Hutu-Offiziere wurden fälschlicherweise beschuldigt, einen Putsch vorbereitet zu haben. Sie wurden dafür umgebracht, sowie auch hunderte von Hutu-Würdenträger. Minister, Geschäftsleute, StudentInnen, Mönche und Nonnen, BeamteInnen... Onkel Juma, Tante Mwalis Mann wurde auch totgeschlagen. Dieser war ein Geschäftmann, der weder große Schulbildung noch eine politische Verpflichtung hatte. Damals wurde jeder angesehene Hutu Bürger ohne weiteres umgebracht.

Tante Mwali hatte fliehen können und sich in Uvira niedergelassen, wo sie ein Geschäft führte. Sie war eine wohlsituierte Bürgerin.

Sie wohnte in ihrem eigenen Häuschen am Tanganjikasee. Gegenüber wohnte eine Familie, die gerade aus Bujumbura geflohen war. Da war Fatuma, eine 30jährige Frau, und ihre drei Kinder: zwei Buben, Saleh, 6 und Ismaïl, 4 und ein 8jähriges Mädchen, Tabu Riziki. Tante Mwali liebte Kinder. Sie hatte leider kein Kind aus ihrer Ehe bekommen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie beschlossen, sich nicht wieder zu verheiraten.

Die kleine Riziki leistete ihr Gesellschaft, bis ich nach Uvira ankam. Gleich nach meiner Ankunft fasste Riziki gegen mich eine Abneigung und wagte nicht mehr, zu Tante Mwali auf Besuch zu kommen. An einem gewissen Abend ertappte ich ihre Unterhaltung mit Tante Mwali.

« Riziki, warum kommst du nicht mehr auf Besuch zu mir? »

« Ich mag nicht den vor kurzem zu dir gekommenen Knaben. »

« Welchen denn? Es gibt zur Zeit zwei Knaben. »

« Der dicke Knabe, der meinen Namen gestohlen hat. Und jetzt ißt er die Naschereien, die du mir zurücklegst. »

« Du solltest dich daran gewöhnen, mit ihm die Naschereien zu teilen, weil er dich später heiraten wird. »

« Neeeein ! Ich hasse ihn »

Ich wusste gleichwohl, daß sie wie gedruckt log. Ich kam mit ihren Brüdern gut aus, und jedesmal wenn ich bei ihnen vorbeiging, tat sie so als ob sie sich verberge, aber ich wusste, daß sie mich heimlich beobachtete. Wir waren nicht von demselben Alter, und ich konnte nicht wissen, welche Gefühle sie hatte. Ich glaube, daß sie mich eigentlich für ihren eigenen Bruder hielt.

Unser Aufenthalt in Uvira dauerte nur vier Monate. An einem gewissen Abend teilte Tante Mwali uns mit, daß SchülerInnen im « Alfajir » Gymnasium in Bukavu, einer Stadt, die etwa hundert Km im Norden von Uvira lag, integriert würden. Wir mussten unbedingt dorthin fahren. Drei andere Schüler, Daniel, Juvent und Augustin reisten mit uns. Der Fahrweg war in schlechtem Zustand, so daß man 8 Stunden lang fahren musste. Es war am 24. November 1972. Gegen 16 Uhr waren wir im « Alfajir » Gymnasium.

Zu unserer Entäuschung war das « Alfajir » Gymnasium überfüllt und man riet uns, lieber nach Rwanda weiterzufahren. Die Grenze lag nur 3 Km entfernt. Also fuhren wir nach Rwanda. Dort angekommen, wurden wir ins Durchgangszentrum Kamembes gebracht, wo wir auf unseren nächsten Bestimmungsort warten mussten.

Das Durchgangszentrum lag am Kivusee. Am folgenden Abend gingen Ali und ich am See spazieren. Da kamen ein paar Knaben, die sich auszogen und ins Wasser sprangen. Da ich gern schwamm, zog ich mich auch aus und sprang ins Wasser. Ali schaute uns nur zu. Seitdem wir Burundi verlassen hatten, war er schweigsam geworden. Er sprach selten und schien immer in Gedanken zu sein.

« Ali, schwimmst du nicht gern? » fragte ich ihn.

Keine Antwort. Ali schien abwesend zu sein.

« Ali, komm doch schwimmen !»

Er sprang auf, als ob er aus einem tiefen Schlaf aufwachte. Stillschweigend zog er sich aus, sprang ins Wasser und ging unter. Wir sollten ihn nicht mehr sehen. Die Verwaltung des Durchgangszentrums wurde sofort benachrichtigt. Der See wurde durchsucht, ohne Ergebnis. Am Morgen danach wurde die Leiche von Ali durch den Fluß Rusizi flußabwärts im Süden an Land geworfen. Uns wurde mitgeteilt, daß es im Kivusee Unterströmungen gab, weil der Rusizi Fluß im See, nicht weit, von wo wir geschwommen waren, entsprang.

Seit jenem Tag habe ich mich über den Sinn des Lebens gefragt. Sollte es sein, daß ein Schwimmmeister so eine lange Reise macht, um im Wasser wie ein Hund zu verrecken? Warum ist Ali nicht in Burundi gestorben? Mir war es, als ob das Leben, wie wir es empfangen, sowie das Glück und das Wertsystem, nur eine Illusion war. Mir war es auch, als ob Ali lebte auf einer anderen Existenzebene. Mir war unbegreiflich, daß jemand so plötzlich zunichte gemacht wurde. Seit jenem Tag, habe ich mich über den Menschenvertrag auf der Erde viel gefragt. Je mehr ich verstehen wollte, desto weniger verstand ich.

Der Aufenthalt im Durchgangszentrum Kamembes dauerte eine Woche. Dann wurden wir in das Flüchtlingslager Rilimas, im Süden von Kigali, der Hauptstadt gebracht. Es war ein von wilden Tieren bevölkerter, dichter Wald. Wahrscheinlich herrschten kleine Wiederkäuer vor, aber Elefanten und Büffel waren am bemerkenswertesten, nicht nur wegen ihrem Wuchs, sondern auch wegen der Schäden, die sie in den Feldern anrichteten.

Im Rilima Flüchtlingslager wurden die neu Ankommenden in einem Schuppen beherbergt. Sie mussten innerhalb einer Woche ihre eigenen Hütten bauen. Wir bekamen Buschmesser, Beile und einen Bauplatz von 100 m2 dazu. Baumaterialien sollten wir im Wald fällen. Zwei kleine mit Papyri umgebene Seen lagen in der Gegend und wir durften uns bedienen. Nicht nur versorgten uns die Papyri mit Seilen, sondern wir konnten sie auch benützen um Dächer, Wände, Türen, Fenster und Betten zu bauen. Wenn es regnete, drang das Wasser von allen Seiten hinein. Diejenigen, die Geldmittel hatten, konnten Planen sehr teuer kaufen, um das Dach zu verstärken. Aber die Kälte konnten sie trotzdem nicht vermeiden.

Da wir uns gegen Pythons und andere kleine Schlangen schützen mussten, wurden sogenannte Betten 1.5 m hoch errichtet. Aus Holz und Papyri natürlich. Das Unterbett diente uns als Speisekammer. Die paar Kleider, die wir besaßen, dienten uns als Kopfkissen. Geflechte, die durch Frauen aus Papyri geflochten wurden, konnte man als Bettdecken benützen.

Schmutz herrschte überall und erregte Ekel. Da die Abortgruben mangelhaft und in schlechtem Zustand waren, lagen überall im Wald Exkremente, die Fliegenvermehrung, Ruhr und andere Epidemien förderten.

Als Grundnahrung bekamen wir gelbes Maismehl und Bohnen. Regelmässig bekamen wir auch Öl und Salz. Von Zeit zu Zeit bekamen wir Kartoffeln; selten Zucker und Milch. Niemals bekamen wir Fleisch oder Fisch. Um unsere Nahrung zu ergänzen, pflegten Juvent und ich oft mit Notbehelfen zum Fischen zu gehen.

Das Trinkwasser war eine Nebensache für uns. Die meisten tranken das von Algen blaugrüne Seewasser ohne vorherige Zubereitung. Nur ein paar Leute pflegten das Wasser zu kochen. Dieselben Seen benützten wir als Schwimmbad. Wir haben einmal einen Brunnen gegraben, in der Hoffnung sauberes Wasser finden zu können, aber das war vergebliche Mühe. Der Untergrund war voll von Eisen, welches das Wasser rot färbte. Auch das Regenwasser, das wir unter unseren Hausdächern auffingen, war nicht sauber, sondern sehr rußig.

Die Schulaktivitäten waren auf die einfachste Formel gebracht worden. Eine sogenannte Wandtafel war einfach in einer Waldlichtung aufgestellt worden, auf der Freiwillige die Kinder in Lesen und Rechnen unterrichteten, wenn das Wetter schön war. Später wurde das Gymnasium Rilimas mit roh behauenen Steinen gebaut. Als Freiwillige haben wir dabei gearbeitet, indem wir Wasser vom See brachten oder die Brucherde kneteten, die benützt wurde, um die Steine zu verbinden.

Als das Rilima Gymnasium gebaut war, wurden freiwillige Lehrer gesucht um mit dem Unterricht anzufangen. Aber für manche Fächer wie Physik und Chemie, konnte kein Lehrer gefunden werden. Deshalb wurden Heimatvertriebene engagiert. Das Gymnasium wurde in April 1973 erröffnet, doch darin wurde nur ein Vierteljahr studiert.

Als ich die kleine Riziki wiedersah, war das Gymnasium noch nicht fertiggebaut. Da das Wetter schön und sonnig war, wollte ich angeln gehen. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam.

« Mama komm schnell. Tabu ist da! » sagte die kleine Riziki. Ich drehte mich rasch um und konnte meinen Augen nicht trauen. Da stand Riziki vor mir und winkte mit der Hand. Sie schaute mich mit engelhaftem Lächeln an und winkte freundlich.

Automatisch ging ich ihr entgegen. Wie war ich überrascht! Da war die ganze Familie in einem kleinen Zimmer, das unser Nachbar ihr zur Verfügung gestellt hatte. Fatuma liebte mich und hielt mich wie ihren eigenen Sohn. Ich hatte dadurch die für mich verlorene Mutterliebe wiedergefunden.

Das Glück war leider von kurzer Dauer. Da die Flüchtlinge beschuldigt wurden, das Land destabilisiert zu haben, hat die Regierung aus Burundi der Regierung aus Ruanda zugemutet, das Flüchtlingslager Rilimas irgendwohin, weit entfernt von der Grenze, zu verlagern. Das Lager wurde sofort nach Mutara, an der Grenze zwischen Ruanda und Uganda verlagert. Da Fatuma Ruandesin war, ging sie mit ihrer Familie nach Byumba. Ich wurde nach Ngarama, einem Transitlager in der Nähe von Mutara, verlegt. Unsere Schulbildung wurde gleichzeitig unsicher und wir sollten uns vorbereiten, Landwirte zu werden und die Erde zu bearbeiten.

Ich verbrachte zwei gute Monate im Flüchtlingslager Ngaramas. Anfang September 1973 wurde uns mitgeteilt, daß die Regierung Ruandas beschlossen hatte, das Gymnasium Rilimas wieder zu eröffnen. Wegen logistischer Mängel durften aber nur Schüler der 3 Abschlußklassen weiterlernen.

Meine Schulkameraden und ich gehörten nicht dazu. Wir mussten uns in unser Los ergeben. Ich vertrieb mir die Zeit mit Überlegen, und ich fragte mich, was ich eigentlich ohne Ausbildung werden würde. Ich konnte mir das nicht vorstellen.

In der Zwischenzeit setzte sich der erste Direktor des Gymnasiums Rilimas, Ernst Schoolen, beim Ausbildungsministerium Ruandas für uns ein. Zwei Wochen später wurde uns mitgeteilt, daß unsere Klasse auch aufgenommen war, weiterzulernen. Wie war ich froh! Ich war sehr froh für mich selbst, aber ich sorgte mich zugleich auch um die Schüler, die nach uns ihr Studium abbrechen mussten. Es war eigentlich eine Katastrophe für viele Waisenkinder, deren Aussichten für immer gefährdet waren.

Das Leben verlief nicht eintönig im Gymnasium Rilimas. Neben unserer Schulaktivität mussten wir jeden Tag Wasser schöpfen für die Küche und einmal in der Woche an den Feldarbeiten teilnehmen. Der See lag einen Km weit entfernt. Jeden Morgen nach dem Frühstück und frühen Nachmittag mussten wir an den See gehen, um Wasser zu holen. Wir benützten diese Gelegenheit oft, um zu baden oder uns zu waschen.

 

 

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